Ernst Piper über den Ersten Weltkrieg

Nacht über Europa

Es beginnt mit einem Gedicht des siebenundzwanzigjährigen Dichters Georg Trakl, der sich am 5. August 1914 als Sanitäter freiwillig zur "aktiven Dienstleistung" zum Militär meldet. Trakl erlebt in Galizien die schweren Niederlagen der k.-u.-k.-Armee gegen das Zarenreich - 130.000 österreich-ungarische Soldaten werden gefangen genommen, 300.000 fallen oder werden verwundet.

Angesichts des Gemetzels begeht der Salzburger Dichter einen Selbstmordversuch; es folgt die Angst vor einer Anklage wegen "Mutlosigkeit vor dem Feind". Zu diesem Zeitpunkt entsteht Trakls letztes und wohl größtes Gedicht "Grodek". In Grodek, einer Ortschaft unweit von Lemberg, hatte Trakl den Massentod unmittelbar vor Augen.

Georg Trakl stirbt wenige Wochen später in Krakau an den Folgen einer Kokainvergiftung - ob es sich um Selbstmord handelte, war später nicht mehr zu klären. Kurz: Der Dichter war einer von fast 15 Millionen Menschen, die im Ersten Weltkrieg starben.

Kultur der Niederlage

Eine derart eindringliche Kontextualisierung eines Einzelschicksals oder eines einzelnen Kunstwerkes gelingt dem Historiker Ernst Piper in seinen dreizehn Kapiteln über die "Urkatastrophe" des Ersten Weltkrieges nur stellenweise. Piper erzählt sich umsichtig und souverän von 1914 bis 1918 durch die politische und militärische Geschichte - was das Besondere oder Neuartige seiner "Kulturgeschichte" sein soll, bleibt allerdings fraglich. Sieht man einmal von spekulativen "Sagern" und Aphorismen ab, wie sie im derzeitigen Groß-Essayismus in Sachen Geschichtsschreiberei en vogue sind; etwa: "Von der Mobilität ist der Weg zur Mobilmachung nicht weit."

Der fast 600 Seiten lange Durchlauf beginnt mit dem Maler Fanz Marc, der im Schützengraben den folgenreichen Ausdruck "europäischer Bürgerkrieg" zur Charakterisierung des Geschehens erfand. Es ist dieser Begriff, den Ernst Piper ins Zentrum seiner Darstellung der Intellektuellen aller beteiligten Kriegsparteien stellt. "Kriegsschuldfragen" wie seinerzeit, nach 1918, spielen für ihn keine Rolle mehr. Die Gegenwart des Ersten Weltkriegs ist durch das Prisma der "Kultur der Niederlage", wie sie Deutschland nach 1945 entwickelte, gesehen. Die Sieger gingen bekanntlich immer leer aus.

Preußischer Militarismus und obskure Schriften wie "Deutschland und der nächste Krieg" aus der unmittelbaren Vorkriegszeit stehen dennoch am Anfang: Es folgten kulturbeflissene Germania-Verherrlichung, die Kolonialkonflikte der europäischen Mächte, Rüstungswettlauf und - kurz nach der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Russland - das legendäre Wort des deutschen Kaisers Wilhelm: "Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur Deutsche."

Entscheidende Weichenstellungen

Ernst Piper schildert detailliert und souverän die innerstaatlichen und innerparteilichen Auseinandersetzungen der kriegführenden Parteien - die Mobilisierung von Kunst und Kultur in den jeweiligen Ländern ist mehr als eine bloße Zutat. Ein Peter Rossegger wirft sich mit "Manneswort und Weiberreinheit" als patriotischer Lyriker in die Schlacht - diese Töne findet man auch in England. Piper betont die Begeisterung der Intellektuellen aller Herren Länder im August 1914, betont aber auch, dass diese Begeisterung von oben "gesteuert" wurde.

Nach den ersten Niederlagen wie in der Marneschlacht des Jahres 1914 stellen Maler wie Max Beckmann, der seinen Militärdienst in einer Propagandakompanie ableistet, durchaus authentisch dar. Beteiligt ist ohnedies alles, was in Kunst- und Kulturgeschichte später einen Namen haben wird; bisweilen führt der Krieg zu entscheidender Weichenstellung. Die gesellschaftskritische Münchner Zeitschrift "Simplicissimus" ergänzt etwa sein Titel-Logo eines bissigen Hundes mit einem säbelschwingenden Kavalleristen. Die peinlichste Entwicklung nimmt der Schriftsteller Thomas Mann, der sich als Apologet des Krieges outet. Selbstredend leistete Mann keinerlei Militärdienst, umso martialischer seine damaligen "Betrachtungen" über den Krieg: "Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung."

Kampf gegen Deutschland

Die erste große "Kulturschlacht" des Ersten Weltkriegs wurde über die Zerstörung der belgischen Stadt Löwen geführt - das deutsche Militär hatte dort als Vergeltung 200 Zivilisten erschossen, 2.000 Gebäude in Schutt und Asche gelegt und die bedeutende Universitätsbibliothek niedergebrannt. Von deutscher Seite wird ein "Weißbuch" veröffentlicht, für Engländer und Franzosen stellt die Gräueltat den Beweis deutscher Barbarei dar.

Gegen das britische "War Propaganda Bureau", das unter der Leitung des späteren Krimiautors Edgar Wallace 1.000 Publikationen herausgibt, wird die deutsche "geistige Mobilmachung" bis zum Ende des Krieges nicht mehr ankommen. Aus dem akademischen Schützengraben Frankreichs heraus agiert auch der zu seiner Zeit berühmteste Philosoph Henry Bergson, der während einer Amerikatournee maximalistisch formuliert: "Der begonnene Kampf gegen Deutschland ist der eigentliche Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei."

Rückfall in Nationalismus

Einer der für alle Beteiligten erstaunlichsten Erfahrungen der Jahre nach 1914 war laut Ernst Piper das "Zerreißen aller internationalen Verbindungen". Die Welt war längst globalisiert, jetzt fielen aber nicht nur die sozialistischen Parteien, sondern das auch europäisch integrierte Kultur- und Geistesleben in Nationalismus zurück. Zwar gab es Pazifisten wie den britischen Philosophen Bertrand Russel oder den französischen sozialistischen Romancier Henry Barbusse an allen Seiten, die Mehrzahl frönte aber wie ein Gerhart Hauptman oder ein Leon Daudet dem jeweiligen Patriotismus.

Der Befund von Karl Kraus über das Wiener Kriegspressequartier am Stubenring, wo 200 Journalisten und Schriftsteller, sowie 350 Kriegsmaler Unterschlupf fanden, war an Sarkasmus kaum zu übertreffen: "Es ist ein Glück, dass noch keiner dieser stillen Helden des Wortes, die bis zur letzten Romanfortsetzung auf ihrem Posten ausharren, in den Papierkorb gefallen ist."

Ernst Piper lässt nichts aus: die Rolle der Fotografie als Mittel von Propaganda und Dokumentation, Ernst Jüngers national verbrämte Verherrlichung des "Kampfes als inneres Erlebnis", den Pazifismus englischer Schriftsteller wie Siegfried Sassoon oder den aberwitzigen Männlichkeitskult und Geschwindigkeitsrausch der italienischen Futuristen. Ein Filippo Tommaso Marinetti verklärt in seinen Manifesten den Krieg unumwunden zum Schauplatz der Schönheit: "Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfums und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt."

Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus

Die prekäre Lage der europäischen Juden, die Piper in einem umfangreichen Exkurs darstellt,. hat niemand so präzise auf den Punkt gebracht wie der Wiener Publizist Aaron Schwertfinger: "In diesem Kampf aller gegen alle genießen wir Juden den Vorzug, für alle Vaterländer zu sterben."

Für Ernst Piper stellt die universale Gewalterfahrung des Ersten Weltkriegs - an dessen Ende standen Lenins Oktoberrevolution und das 14-Punkte-Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson (das Selbstbestimmungsrecht der Völker) - die universale Gewalterfahrung des Ersten Weltkriegs stellte vor allem einen Schlüssel für das Aufkommen der politischen Gewalt in den Folgejahren dar. Der Erste Weltkrieg war eine "entscheidende mentale Voraussetzung" für den Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus. Resümee der "totalen Niederlage" Deutschlands im November 1918:

Die "Nacht über Europa" begann 1914. Dass Kunst und Kultur keine geeigneten Mittel sind, der Barbarei zu widerstehen, ist einer der mehr als ernüchternden Schlüsse, die man aus Ernst Pipers Buch ziehen kann.

Service

Ernst Piper, "Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs", Propyläen Verlag