Die "Café Sonntag"-Glosse von Franz Schuh

Mord, Moral und andere Albernheiten

Mein Vater war Kriminalbeamter und in dieser Eigenschaft erhielt er per Post eine Publikation der Sicherheitsdirektion, ein Buch, das die Polizeibeamten kriminologisch informieren sollte. Mein Vater war genug informiert - ich hingegen studierte meine ersten Tatortfotos.

Nie werde ich die unendliche Tristesse vergessen, die von den Leichen und von ihrer Umgebung ausging: Da lag zum Beispiel eine alte Frau unterm Küchentisch, sie trug braune wollene Strümpfe und das Leben, das sie ausgehaucht hatte, erschien in dem traurigen Raum ihres Todes wie die purste, ihr Ende schon vorwegnehmende Qual.

Das Elend zieht das Elend an und an dieser Szenerie war nichts, was die Kriminalliteratur so anziehend macht. Die Spannung war raus, und ich habe den Verdacht, dass die Fiktionen, die literarischen Erfindungen der Kriminalliteratur, die mich als Leser ein Leben lang begleitet haben, gar nichts mit der Wirklichkeit des Mordens zu tun haben oder vielleicht nur in einem eingeschränkten Sinn.

Wie sehr auch immer die Romane ihre Motive der sozialen Wirklichkeit entnommen haben, in den Fiktionen der Kriminalliteratur geht es um das Verbrechen im Verhältnis zum ganzen Menschen, besser: zur Gesellschaft im Ganzen: also um grundsätzliche Fragen der Schuld, der Rache, auch um Fragen der Wahrheit, um Fragen der Bürokratie, die die Wahrheit ausfindig macht, oder darum, wie die Wahrheit sonst ans Licht kommt.

Das sind Themen, die auch in einer mörderischen Realität vorkommen, aber in dieser Realität wird nichts auf die Gesellschaft im Ganzen bezogen - eine solche Reflexion wäre für einen Kriminalisten höchstens ein Hobby. In der Lebenswirklichkeit des Kriminalisten ist der Mord in erster Linie ein Fall, das heißt: ein juristisch und kriminalistisch eingekreistes Phänomen.

Die Kriminalliteratur hingegen zeigt, ja, sie stellt die Gesellschaft aus, in der das Verbrechen passiert: Agatha Christie ist dafür ein Beispiel, ihre Gesellschaft ist allerdings untergegangen, aber immer noch der Erinnerung wert. Oder man lese die Kriminalromane von Stefan Slupetzky: Die österreichische Gesellschaft, die da vorkommt, die gibt es noch - und wie es sie gibt!