Das unterschätzte Wissen der Laien

Citizen Science

Bei "Citizen Science" handelt es sich einerseits um interessierte Amateure, die für wissenschaftliche Projekte Messungen durchführen, Naturbeobachtungen melden oder bei Datenauswertungen mithelfen, andererseits umfasst er aber auch jene Bürger und Bürgerinnen, die selbstständig Forschungsvorhaben verwirklichen.

Vor allem Letzteren hat der deutsche Wissenschaftstheoretiker Peter Finke sein neues Buch gewidmet. Einer der augenscheinlichsten Erfolge der "Bürgerwissenschaft" ist in seinen Augen die Online-Enzyklopädie "Wikipedia". Ohne ehrenamtliche Wissensvermittler wäre dieses digitale Großprojekt unmöglich gewesen.

"Ehrwürdige" Wissenschaft

Dass Peter Finke mit dem gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb nicht einverstanden ist, hat er bereits vor der Veröffentlichung seines Buches demonstriert: Nach 25 Jahren als Professor für Wissenschaftstheorie hat Peter Finke die Universität Bielefeld freiwillig vor dem Pensionsantrittsalter verlassen. Die Hochschulpolitik in Deutschland und die übereilte Einführung des Bologna-Systems an den europäischen Universitäten hatten ihn zu diesem Schritt veranlasst. Die Haltung des Autors dürfte sich seitdem nicht verändert haben, denn gleich im ersten Kapitel von "Citizen Science" geht es der ehrwürdigen, professionellen Wissenschaft an den Kragen.

Der Ausweg ist für Finke eindeutig: Die Bürgerwissenschaft, die sich alleine der Wahrheitssuche verpflichtet.

Amateure ohne starre Strukturen

Die Beispiele sind zahlreich. Angefangen mit Charles Darwin, der Theologie studiert hatte, seine Leidenschaft für Biologie allerdings nicht an der Universität, sondern in einer Gesellschaft von naturinteressierten Gentlemen ausleben konnte. Auch heute gibt es zahlreiche Vereine, in denen sich wissenschaftsinteressierte Laien zusammentun, um vor allem lokale oder regionale Forschungsvorhaben zu bearbeiten, sei es im Bereich der Geschichte oder etwa in der Botanik.

Den teuren, starren Strukturen wissenschaftlicher Großprojekte können die begeisterten Amateurgelehrten lebensnahe Forschung entgegenhalten.

Solche ehrenamtlichen Forschungsvorhaben bringen Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zusammen, generationenübergreifend.

Verständliche Sprache

Die Bürgerwissenschaft hat für den Autor noch einen weiteren offensichtlichen Vorteil: Sie bedient sich einer anderen, verständlicheren Sprache als die Profis an den Universitäten. Finke hofft, dass die Laien die Berufswissenschaftler aus ihrem allzu engen Korsett befreien werden.

Für sein Buch hat Peter Finke auch Interviews mit aktiven Hobby-Wissenschaftlern geführt: von der Ärztin, die sich für Kernphysik begeistert, bis zur Bildhauerin, die Vögel in freier Wildbahn beobachtet und zählt. Sie sind nach Ansicht des Autors die neuen Wissensbürger: Es reicht ihnen nicht zu glauben, sie wollen Beweise sehen. Hier verschwimmt die Grenze zu den Wutbürgern, die an gesellschaftlichen und politischen Veränderungen aktiv mitwirken möchten. Die Motivation, selbst ein Citizen Scientist zu werden, hat auch mit der Abgeklärtheit der Berufswissenschaftler zu tun, schildert etwa ein Taxifahrer:

Mangelnde Qualitätskontrollen

Noch ist die wissenschaftliche Schlagkraft der ehrenamtlichen Forscher begrenzt. Sie werden in der offiziellen Wissenschaftssphäre vor allem als freiwillige Zuarbeiter wahrgenommen. Die Beispiele dafür sind zahlreich: Für ein Forschungsprojekt der Universität für Bodenkultur zählen Freiwillige Wildtiere, die im Straßenverkehr uns Leben kommen. Am MIT in den USA haben computerspielende Freizeitwissenschaftler die Nervenverbindungen der Netzhaut zusammengebastelt. Das zeigt auch die Grenzen der "citizen science" auf: Die Universitäten oder andere Forschungseinrichtung lagern etwa die Datensammlung kostenfrei aus. Die Bürgerwissenschaftler sind nicht an der Theorie- oder Hypothesenbildung beteiligt, werden oft nicht einmal in den wissenschaftlichen Arbeiten erwähnt.

Im Rahmen der selbstständigen Amateurwissenschaft mangelt es an entsprechenden institutionellen Qualitätskontrollen und methodische Richtlinien. Um diesen Umstand zu ändern, bedarf es nach Ansicht von Peter Finke vor allem finanzieller Förderung von staatlicher Seite. Denn der Zugang zu Wissen in unserer Gesellschaft ist ungerecht verteilt. Das behindert wiederum die Demokratie.

Das Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Bürgerwissenschaft und das Potenzial der ehrenamtlichen Forschungen. Doch es ist unverkennbar, dass Finke selbst vom institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb die Nase voll hat. Sowohl Idealismus als auch Frust schwingen auf den mehr als 200 Seiten immer mit. Passionierte Hobby-Forscher werden an der Lektüre mit Sicherheit ihre Freude haben.

Service

Peter Finke, "Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien", oekom Verlag