Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa

Der Geschmack von Asche

Als die Berliner Mauer im Herbst 1989 fiel, ging Marci Shore noch zur Schule. Der Zerfall des Sowjetimperiums mit seinen osteuropäischen Satellitenstaaten hatte für sie aus US-amerikanischer Sicht des Kalten Krieges etwas nahezu Romantisches an sich. Es war eigentlich wie ein Märchen.

Das Märchen, an das sie sich erinnert fühlte, war der "Zauberer von Oz". Darin wird die böse Hexe getötet. Und am Schluss heißt es so schön wie in allen Märchen: Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch.

Havels Rede weckt Neugier

Der Prinz in diesem Märchen war Vaclav Havel. Im Februar 1990 hielt der Ex-Dissident und spätere tschechische Präsident eine viel beachtete Rede vor dem US-Kongress in Washington. Marci Shore erinnert sich noch gut daran:

"In seiner Rede sagte Vaclav Havel: 'Das Bewusstsein bedingt das Sein. Und nicht umgekehrt, wie die Marxisten behaupten.'" Die Autorin führt weiter aus, "natürlich hat damals niemand verstanden, was er damit gemeint hat. Er hat sich damit auf einen bestimmten historischen Zeitpunkt bezogen, als Marx und Engels erklärten, das Sein bedinge das Bewusstsein. Ich glaube, man kann davon ausgehen, dass fast niemand gewusst hat, was er damit meinte. Aber es hörte sich sehr schön an. Das weckte mein Interesse. Als ich dann nach Prag und nach Bratislava fuhr, wollte ich wissen, was es sozusagen mit dem 'Ende gut - alles gut' auf sich hat."

Marci Shores Interesse an den politischen Veränderungen und dem Leben der Bürger in Osteuropa hatte also sehr persönliche Wurzeln. Und genauso persönlich ist auch das Buch der Historikerin, die an der renommierten Yale University lehrt. "Der Geschmack von Asche" ist weniger Analyse als eine impressionistische, anschauliche Sammlung von Episoden und Beobachtungen.

Eine aufmüpfige Lehrerin

Am eingehendsten befasst sich Marci Shore mit Polen und Tschechien. Sie beschreibt beispielsweise ihre Zeit in einer tschechischen Kleinstadt. Dort unterrichtete Marci Shore 1994 an einem Gymnasium Englisch. Der Direktor, erinnert sie sich, leitete die Schule mit eiserner Faust und war eine Respektsperson, der alle bedingungslos gehorchten. Das Schulgebäude war ein Altbau und renovierungsbedürftig. Und an einem kalten Wintertag fiel die Heizung aus.

"Alle Schüler saßen in Mantel und Schal da", erzählt Marci Shore, "und dann sah ich, dass sie aber keine Schuhe anhatten. Sie trugen Pantoffel. Das ist in tschechischen Schulen so üblich. Wenn man in die Schule kommt, zieht man die Straßenschuhe aus und Hausschuhe an. Das ist einfach so. Ich fand das in diesem Fall lächerlich und sagte zu den Schülern: Geht euch die Stiefel anziehen. Und keiner rührte sich."

Marci Shore musste den Schülern versichern, dass sie allein die Verantwortung für diesen Akt von Insubordination auf sich nehmen würde. Sehr zögernd zogen sich die Schüler dann doch die warmen Stiefel an. Der Direktor war über die Initiative der jungen Amerikanerin zutiefst empört. Und auch die Kollegen stellten sich gegen sie. Denn wie kam sie, als Außenstehende dazu, sich nicht an die Regeln zu halten?

Einer lächerlichen Regel zu folgen, kam Marci Shore dumm vor. Warum sollte sie das tun? Doch sie verstand auch das Verhalten der Kollegen: Diese waren in einem System aufgewachsen, wo Regeln unhinterfragt befolgt wurden.

Eltern denunzieren Tochter

Der blinde Gehorsam vieler unter einem totalitären Regime riss Familien auseinander. Die Historikerin schreibt etwa von Jarmila, die schließlich in die USA auswanderte. Jarmila war leidenschaftliche Antikommunistin und hatte die Charta 77 unterschrieben. In Tschechien besuchte Marci Shore Jarmilas Eltern. Sie luden sie auf ein Gläschen Likör ein. Stolz zeigen ihr die Eltern Fotos und Schulzeugnisse der Tochter. Marci Shore schreibt:

Kein Wunder also, dass Jarmila von ihren Eltern entfremdet ist.

Niemand glaubte an ein Ende

Die langen Schatten des Totalitarismus sind überall. Marci Shore führte lange Gespräche mit ehemaligen Dissidenten. Viele machen sich noch immer Vorwürfe, dass sie eigentlich versagt hatten. Denn sie waren in keiner Weise auf politische Führungsrollen, die ihnen mit einem Mal vor die Füße fielen, vorbereitet gewesen.

"Eines hörte ich von vielen Leuten immer wieder", erinnert sich die Autorin, "von ehemaligen Dissidenten, ehemaligen Kommunisten; von Menschen, die weder der einen noch der andern Gruppe angehörten, - von einfachen Bürgern". Jeder habe gesagt: "Wir hätten nie gedacht, dass das System zu unseren Lebzeiten zusammenbricht. Damit hat wirklich niemand gerechnet."

So betrachtet sagt Shore, "ist die Opposition der Dissidenten wahrlich heroisch. Denn sie engagierten sich ohne zu erwarten, dass sie lange genug leben würden, um den Erfolg ihrer Bemühungen zu sehen."

Service

Marci Shore, "Der Geschmack von Asche", aus dem Englischen von Andrea Stumpf, C. H. Beck Verlag