Warum wir uns vor dem Falschen fürchten

Das Risikoparadox

Wenn es darum geht Risiken einzuschätzen, macht unser Gehirn jede Menge Fehler. Risiken werden paradoxerweise meist über- oder unterschätzt. Menschen fürchten sich vor einer tödlichen Krankheit, vor der Vogelgrippe, gefolgt von der Angst vor dem Klimawandel oder vor Elektrosmog. Aber das sind gar nicht die wahren Risiken.

Wer zum Beispiel panische Angst vor dem Fliegen hat, sich dagegen im Straßenverkehr absolut sicher fühlt, schätzt das Risiko falsch ein. Die Statistik zeigt: Auto fahren ist viel gefährlicher als Fliegen. Würden die knapp 500 Verkehrstoten, die im letzten Jahr in Österreich gezählt wurden, an einem einzigen Tag alle auf einmal sterben, würden sich viel weniger Menschen im Auto sicher fühlen, vermutet der Stuttgarter Risikoforscher Ortwin Renn.

Tücken der Statistik

Das Credo des Umwelt- und Techniksoziologen: Natürlich leben wir in einer riskanten Gesellschaft, haben es uns aber darin bequem eingerichtet. Wir nehmen das Risiko verzerrt wahr und verkennen die wirklichen Gefahren. Ortwin Renn stellt nüchtern fest: Im Normalfall führen Kernenergie, Gentechnik, Nanotechnologie oder Müllverbrennungsanlagen kaum zu Todesfällen.

Der 63-jährige Soziologe klärt seit Jahren gebetsmühlenartig über die Risiko-Darstellung in den Medien und die Tücken der Statistik auf, denen man als Laie gerne auf den Leim geht. Darum heißt der Untertitel seines Buches auch: Warum wir uns vor dem Falschen fürchten.

Vier große Killer

Für Ortwin Renn gibt es zunächst die Ängste, die für jeden Menschen gelten und absolut berechtigt sind. Gemeint sind die vier großen Killer: Alkohol, Rauchen, Bewegungsmangel und falsche Ernährung - abends drei Gläser Wein trinken, sich wenig bewegen und viel zu viel essen. Die negativen Folgen werden gerne verdrängt, weil sich ein Herzinfarkt kaum auf den Besuch eines Fast-Food-Restaurants zurückverfolgen lässt. Diese Killer machen aber 40 bis 60 Prozent aller frühzeitigen Todesfälle aus. Das Paradoxe ist, dass man genau bei diesen Risiken besonders viel selbst tun könnte, um sein Leben sicherer zu gestalten.

Und es gibt "systemische Risiken", die den Einzelnen zwar nur indirekt, aber die gesamte Gesellschaft treffen können - und die man wirklich fürchten muss.

Ökologische Bedrohungen

Der Klimawandel ist für Ortwin Renn nur die Speerspitze unter den ökologischen Bedrohungen, obwohl statistisch gesehen vorerst nur verschmutztes Trinkwasser oder mangelnde Hygiene Todesopfer fordern. Eine immense Gefahrenquelle solcher Steuerungsdefizite ist auch im Bereich der Wirtschaft zu finden. Gemeint ist die große Finanzkrise oder die Eurokrise in Europa.

Gefahr soziale Ungleichheit

Der große dritte Block sind für Ortwin Renn die Steuerungsrisiken. Gemeint ist beispielsweise die soziale Ungleichheit, denn die Kluft zwischen Arm und Reich wird weltweit immer größer. Oder bedrohliche Phänomene wie der internationale Terrorismus. Zu Recht haben viele Menschen Angst vor den Konsequenzen, ohne dass sie das Risiko wirklich erkennen und einschätzen können.

Ortwin Renn ist eine bemerkenswerte und lehrreiche Dokumentation an Daten und Fakten gelungen. Der Risikosoziologe, der zum wissenschaftlichen Beraterstab des EU-Kommissionspräsidenten José Barroso gehört, rät zunächst, die Schwächen der eigenen Wahrnehmung zu erkennen. Um risikomündig zu werden, wie er es nennt, sollte man skeptisch sein, wenn man irgendwo hört, dass etwas gefährlich ist. Stattdessen lieber den gesunden Menschenverstand einschalten und versuchen, sich zu informieren, um die Sache richtig einschätzen zu können. Er fordert, dass der Staat mehr Steuerungsmacht braucht, um die Risiken von Ökonomie und Ökologie einzudämmen. Und um Bürger besser über schwer begreifbare Risiken aufzuklären, sollte es ein öffentliches Beratungssystem geben.

Service

Ortwin Renn, "Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten", S. Fischer Verlag