Warum wir uns vor dem Falschen fürchten
Das Risikoparadox
Wenn es darum geht Risiken einzuschätzen, macht unser Gehirn jede Menge Fehler. Risiken werden paradoxerweise meist über- oder unterschätzt. Menschen fürchten sich vor einer tödlichen Krankheit, vor der Vogelgrippe, gefolgt von der Angst vor dem Klimawandel oder vor Elektrosmog. Aber das sind gar nicht die wahren Risiken.
8. April 2017, 21:58
Wer zum Beispiel panische Angst vor dem Fliegen hat, sich dagegen im Straßenverkehr absolut sicher fühlt, schätzt das Risiko falsch ein. Die Statistik zeigt: Auto fahren ist viel gefährlicher als Fliegen. Würden die knapp 500 Verkehrstoten, die im letzten Jahr in Österreich gezählt wurden, an einem einzigen Tag alle auf einmal sterben, würden sich viel weniger Menschen im Auto sicher fühlen, vermutet der Stuttgarter Risikoforscher Ortwin Renn.
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Die Vorstellung, dass unsere Welt immer riskanter und gefährlicher wird, lässt sich durch die wissenschaftliche Analysen und die statistische Überprüfung nicht bestätigen. (...) Im Klartext: Wir fürchten uns häufig vor den Risiken, die uns nur wenig bedrohen, und sind achtlos gegenüber den Risiken, die nicht nur einen großen Tribut von unserer Gesundheit fordern, sondern die auch zusätzlich durch unsere eigenen Handlungen und Verhaltensweisen in ihrer Wirksamkeit beeinflussbar wären. Diese zu ignorieren ist doppelt problematisch.
Tücken der Statistik
Das Credo des Umwelt- und Techniksoziologen: Natürlich leben wir in einer riskanten Gesellschaft, haben es uns aber darin bequem eingerichtet. Wir nehmen das Risiko verzerrt wahr und verkennen die wirklichen Gefahren. Ortwin Renn stellt nüchtern fest: Im Normalfall führen Kernenergie, Gentechnik, Nanotechnologie oder Müllverbrennungsanlagen kaum zu Todesfällen.
Der 63-jährige Soziologe klärt seit Jahren gebetsmühlenartig über die Risiko-Darstellung in den Medien und die Tücken der Statistik auf, denen man als Laie gerne auf den Leim geht. Darum heißt der Untertitel seines Buches auch: Warum wir uns vor dem Falschen fürchten.
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Das Ziel ist und bleibt die Risikomündigkeit. Erst wenn wir lernen, wie wir selber Risiken verarbeiten und Rückschlüsse aus den Informationen über Risiken ziehen, haben wir das Rüstzeug dafür, auch in Zukunft angemessener und effektiver mit Risiken des täglichen Lebens umzugehen.
Vier große Killer
Für Ortwin Renn gibt es zunächst die Ängste, die für jeden Menschen gelten und absolut berechtigt sind. Gemeint sind die vier großen Killer: Alkohol, Rauchen, Bewegungsmangel und falsche Ernährung - abends drei Gläser Wein trinken, sich wenig bewegen und viel zu viel essen. Die negativen Folgen werden gerne verdrängt, weil sich ein Herzinfarkt kaum auf den Besuch eines Fast-Food-Restaurants zurückverfolgen lässt. Diese Killer machen aber 40 bis 60 Prozent aller frühzeitigen Todesfälle aus. Das Paradoxe ist, dass man genau bei diesen Risiken besonders viel selbst tun könnte, um sein Leben sicherer zu gestalten.
Und es gibt "systemische Risiken", die den Einzelnen zwar nur indirekt, aber die gesamte Gesellschaft treffen können - und die man wirklich fürchten muss.
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Ein zentrales systemisches Risiko ist die Übernutzung der natürlichen Ressourcen und damit die Gefahr von künftigen Versorgungsengpässen bis hin zu Katastrophen. So ernährt sich heute die Menschheit zu 90 Prozent von nur noch 15 Getreidearten. Sollte es bei diesen Arten zu Problemen kommen, etwa durch Schädlinge, die wir nicht gleich kontrollieren können, brechen Hungersnöte aus.
Ökologische Bedrohungen
Der Klimawandel ist für Ortwin Renn nur die Speerspitze unter den ökologischen Bedrohungen, obwohl statistisch gesehen vorerst nur verschmutztes Trinkwasser oder mangelnde Hygiene Todesopfer fordern. Eine immense Gefahrenquelle solcher Steuerungsdefizite ist auch im Bereich der Wirtschaft zu finden. Gemeint ist die große Finanzkrise oder die Eurokrise in Europa.
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Wenn Risiken schleichend daher kommen, sind wir Menschen von der Evolution her außerordentlich schlecht darauf vorbereitet, sie wahrzunehmen und entsprechend zu bewerten. Da sind wir eigentlich immer noch wie Savannenmenschen, für die es lebensnotwendig war, sich schnell und wirksam auf plötzliche Gefahren einzustellen.
Gefahr soziale Ungleichheit
Der große dritte Block sind für Ortwin Renn die Steuerungsrisiken. Gemeint ist beispielsweise die soziale Ungleichheit, denn die Kluft zwischen Arm und Reich wird weltweit immer größer. Oder bedrohliche Phänomene wie der internationale Terrorismus. Zu Recht haben viele Menschen Angst vor den Konsequenzen, ohne dass sie das Risiko wirklich erkennen und einschätzen können.
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Die Welt ist so komplex geworden, dass man Computermodelle aus vielen Fachrichtungen braucht, um kommende Bedrohungen rechtzeitig zu erkennen. Trotzdem werden wir viele Risiken erst erkennen, wenn sie eingetreten sind. Damit dieser Fall nicht zu einem systemischen Kollaps führt, bei dem die Funktionalität von Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft auf dem Spiel steht, muss die Gesellschaft robuster gegen funktionsgefährdende Risiken werden.
Ortwin Renn ist eine bemerkenswerte und lehrreiche Dokumentation an Daten und Fakten gelungen. Der Risikosoziologe, der zum wissenschaftlichen Beraterstab des EU-Kommissionspräsidenten José Barroso gehört, rät zunächst, die Schwächen der eigenen Wahrnehmung zu erkennen. Um risikomündig zu werden, wie er es nennt, sollte man skeptisch sein, wenn man irgendwo hört, dass etwas gefährlich ist. Stattdessen lieber den gesunden Menschenverstand einschalten und versuchen, sich zu informieren, um die Sache richtig einschätzen zu können. Er fordert, dass der Staat mehr Steuerungsmacht braucht, um die Risiken von Ökonomie und Ökologie einzudämmen. Und um Bürger besser über schwer begreifbare Risiken aufzuklären, sollte es ein öffentliches Beratungssystem geben.
Service
Ortwin Renn, "Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten", S. Fischer Verlag