17 Beispiele einer besseren Welt
Völlig utopisch
"Die Welt wird nie gut, aber sie könnte besser werden", stellte der Schriftsteller Carl Zuckmayer im 20. Jahrhundert fest. Dieser Idee scheinen heute immer Menschen zu folgen. Dieser Überzeugung ist zumindest der deutsche Journalist Marc Engelhardt.
8. April 2017, 21:58
Nach Idealen streben
Alternative Modelle zur gegenwärtigen Politik, Wirtschaft oder gesellschaftlichen Konventionen gab es zu jeder Zeit. Der deutsche Schriftsteller Ilija Trojanow gräbt im Vorwort zu "Völlig utopisch" erst einmal im reichen historischen Schatz der utopisch-anarchistischen Konzepte. Die Pariser Kommune, die Spanische Revolution in den 1930er Jahren oder die Lebensgeschichte des ungehorsamen Zivilisten Henry David Thoreau, der sich in eine selbstgebaute Blockhütte jenseits der amerikanischen Großstädte zurückzog, um gegen Sklaverei und staatliches Unrecht zu demonstrieren. Alle diese Beispiele zeigen, dass Menschen durchaus nach Idealen streben und existierende Autoritäten in Frage stellen. Nicht immer, aber oft mit Erfolg.
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Epochen geistiger Blüte brachten auch ein Hochkonjunktur an Utopien hervor: das antike Griechenland, die Renaissance, die Industrialisierung. Sklaverei, Feudalismus, Absolutismus, staatliche Willkür wurden zuerst im Kopf abgeschafft, in der Fantasie niedergerungen, bevor sie in der Realität überwunden wurden. Immer wieder gab es Momente in der neueren Geschichte, das Miteinander radikal anders zu gestalten.
Vom gegenwärtigen Mantra, dass es viele gute Vorschläge gäbe, diese aber leider nicht realisierbar wären, hält Trojanow wenig. Es sei an der Zeit, die allerorts präsenten "Fetische" Arbeit und Erfolg infrage zu stellen. An ihre Stelle müssten der Reichtum an Zeit und das Ziel der Selbstbestimmtheit rücken.
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Die Träume von Gleichheit und Gerechtigkeit sind gegenwärtig dem Schlaf überlassen, im Wachsein dominiert die Ersatzdroge Konsum. Unter dem Druck, funktionieren zu müssen, um konsumieren zu können, geht der Blick fürs visionäre Ganze leicht verloren, ebenso wie der Glaube daran, etwas verändern zu können.
Abgeschieden vom Rest der Welt
In diesem Sinn beginnt "die Revolution von morgen schon heute im Kleinen". Doch eins vorweg: Dieses Versprechen wird nicht in allen Reportagen aus "Völlig utopisch" eingelöst. Da wären etwa neuseeländische Aussteiger, die sich durch die klassischen Tugenden der Leistungsbereitschaft und Beharrlichkeit eine neue Existenz abgeschieden vom Rest der Welt aufgebaut haben. Ein neues Konzept für ein soziales Miteinander sucht man hier jedoch vergebens.
Oder die US-Amerikanerin Robi Hunter, die sich in einer Wohnwagensiedlung in der kalifornischen Wüste mit Gleichgesinnten die sogenannte "Slab City" errichtet hat. Doch abgesehen von kleinen Überbrückungshilfen spielt gemeinschaftliche Hilfe bei den "Slabbern" keine große Rolle. Ihnen geht es vielmehr darum, den letzten freien Ort Amerikas zu erhalten, wie die Journalistin Kerstin Zilm berichtet.
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Tatsächlich gibt es nirgendwo in den USA so viele Freiheiten wie an diesem vom Rest der Welt vergessenen Wüstenflecken. Die Camper können ihren Flecken Freiheit nicht nur ausbauen und gestalten, wie sie wollen. Es kümmert sich im Gegensatz zum Rest von Amerika auch niemand darum, was sie wo und wann rauchen. Man könnte sich anders als in den meisten US-Bundesstaaten jederzeit unter freiem Himmel betrinken, selbstgefangene Klapperschlagen über dem Lagerfeuer grillen, nackt ohne Helm Fahrrad fahren. Würde ein Politiker hier verbieten, aus Riesenbechern Cola zu trinken, hätte er keine Wähler, ganz abgesehen davon natürlich, dass es in Slab City keine Politiker gibt.
Aus dem Nichts
In "Völlig utopisch" beeindrucken weniger die Aussteiger, die es geschafft haben, als diejenigen, die scheinbar aus dem Nichts ein neues Gemeinschafts- oder Wirtschaftsmodell begründet haben. Etwa die Arbeiter der argentinischen Fliesenfabrik Zanón, von denen Karen Naundorf berichtet. Das Unternehmen ist eines von 300 in Argentinien, in denen die Arbeiter seit der Wirtschaftskrise 2001 das Kommando übernommen haben. Im Fall der Fliesenfabrik hatte der Besitzer alle Mitarbeiter gekündigt, nachdem die auf ihren Lohn bestanden hatten. Investitionen in notwendige Technologie können sich die Arbeiter derzeit noch nicht leisten, aber zumindest bekommen alle regelmäßig das gleiche Gehalt.
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Die Arbeiter kommen in drei Schichten. Pünktlich, 15 Minuten vor Arbeitsbeginn, obwohl kein Chef auf die Uhr schaut. Wer oft zu spät ist, krankfeiert oder mit den Companeros streitet, muss sich vor der Betriebsversammlung rechtfertigen.
Hilfe ist manchmal nötig
Dass im Angesicht von Krisen, utopische Konzepte leichter umgesetzt werden, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. So auch in Griechenland, wo sich fünf junge Menschen in einer Wohngemeinschaft auf dem Land zusammengetan haben und ihre Lebensweise sukzessive auf Selbstversorgung umstellen. Derzeit benötigen sie zusammen nur 150 Euro pro Monat.
Nur mit Hilfe von außen konnte eine kleine Utopie in Namibia verwirklicht werden, einem Land, in dem der soziale Graben zwischen Arm und Reich besonders tief ist. Im Dorf Otjivero wurde auf Initiative eines deutschen Wirtschaftswissenschaftlers ein bedingungsloses Grundeinkommen für 930 Menschen eingeführt. Die Leute sind nach wie vor von diesen Zuwendungen abhängig, doch sie arbeiten mehr und es entstanden schon nach kurzer Zeit neue wirtschaftliche Kreisläufe, schildert Marc Engelhardt.
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In Otjivero hat erst das bedingungslose Grundeinkommen die Menschen in die Lage versetzt, darüber nachdenken zu können, was für sie wirklich wichtig ist im Leben. Wie sie ihr Leben als Einzelne und in der Gesellschaft führen wollen, welche alternativen Formen des Zusammenlebens es noch geben könnte. Von ihren Überlebensängsten befreit, regt sich nunmehr bei den Bewohnern immer mehr Widerstand gegen die Ungleichheit im Land.
"Wer Visionen hat, möge zum Arzt gehen", hat der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal gesagt. Im Großteil der Reportagen in "Völlig utopisch" wird dieses Zitat eindrucksvoll widerlegt. Noch haben nicht alle Projekte Hand und Fuß, doch viele haben das Potenzial, zu alternativen Lebensmodellen zu werden. Nach der Lektüre des Buches ist auf jeden Fall klar: Nach Utopien sollte man nicht in der Vergangenheit suchen.
Service
Marc Engelhardt (Hg.), "Völlig utopisch. 17 Beispiele einer besseren Welt", Pantheon Verlag
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