Frei - wie ein Vogel?

Wenn man keinen Termin mit irgendjemandem hat, kann man morgens ausschlafen. Oder man steht extra früh auf, setzt sich im Pyjama zum Schreibtisch, arbeitet zwei, drei Stunden und frühstückt erst dann in Ruhe.

Oder man steht genauso früh auf wie Geschäfts- und Büromenschen, macht aber zuerst eineinhalb Stunden Hausarbeit, bis die Wohnung blitzblank ist, damit man klare Gedanken fassen kann. Oder man treibt Sport, geht mit dem Hund spazieren, trifft eine Freundin, geht auf den Berg, liest ein Buch und arbeitet erst abends.

Frei zu sein, bedeutet frei zu sein. Frei von fixen Bürozeiten, frei von Zwangsehen mit Kolleginnen und Kollegen, frei von Chefs mit Kontrollzwang, frei von sterilen Büros, Kantinenessen und Arbeitszeitaufzeichnungen.

Frei zu sein bedeutet aber nicht, dass die Arbeit immer gemütlich ist. Es bedeutet zu allererst einmal, dass man sich die Arbeit selbst suchen und organisieren muss. Man muss "Akquise" betreiben, wie das im Managersprech heißt. Akquise heißt, rückübersetzt, dass man sich das unbeschwerteste Lächeln ins Gesicht zaubert und anruft, E-Mails schreibt, fade Veranstaltungen besucht, mögliche Kunden anquatscht, die Konkurrenz beobachtet, sich neue Ideen und Produkte aus dem Hirn quält und mehrmals täglich auf die Schnauze fällt.

Die wichtigste Charakterstärke von Freien muss ein unerschöpflicher Vorrat an Unverdrossenheit gegenüber Absagen sein. Oder nennen wir es Selbstachtungslosigkeit? Wie der berühmte Baron Münchhausen zieht man sich immer wieder am Schopf aus dem Schlamm, schüttelt sich, stellt sich unter die "Das macht mir alles nichts aus"-Dusche und fängt von Neuem an.

Doch die Rückschläge sind wie Stadttauben. Sie rotten sich an den grauslichsten Plätzen zusammen und picken im Dreck herum. "Hab ich dir nicht immer schon gesagt, dass du nicht gut genug bist", picken sie. "Hättest du halt damals den Job genommen, jetzt ist es zu spät", gurren sie. "Du wirst nie wieder einen Auftrag bekommen und verhungern", schlagen sie aufgeregt mit den Flügeln. Dann liest man heimlich wieder die Stellenanzeigen in der Zeitung, abonniert die Job-Mailings der Branchenplattform und ersucht bei der Bank um Erhöhung des Überziehungsrahmens.

Eines Tages landet eine Amsel mit glänzend schwarzem Gefieder und leuchtend orangem Schnabel auf der Parkbank und singt das schönste Lied, dass man je gehört hat. Dann läutet das Telefon, doingt das E-Mail-Postfach und die Aufträge trudeln herein, ganz ohne Zutun. Dann geht man wieder aufrecht, sagt stolz "Ich bin Freie!" und kauft Croissant für das späte Frühstück am nächsten Tag.

Seit 30 Jahren geht das so, auf und ab. Irgendwie hast du überlebt. Irgendwie ist das wohl deins, und wahrscheinlich wird sich das nicht mehr ändern. Nur an eines darfst du nicht denken: an die Pension oder ans krank sein. Dann verwandeln sich die ekeligen Tauben in Hitchcocks mörderische Krähen.