Die Geburt eines deutschen Traumas

Inflation

Vor 100 Jahren, mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, begann ein deutsches Trauma, das in die Hyperinflation von 1923 mündete. "Inflation. Der Untergang des Geldes in der Weimarer Republik und die Geburt eines deutschen Traumas" nennt sich jetzt ein Buch des britischen Historikers Frederick Taylor, der sich immer wieder mit der Geschichte Deutschlands auseinandersetzt.

50 Milliarden Reichsmark für eine Straßenbahnfahrt, 360 Milliarden für einen Liter Milch. Am Höhepunkt der Hyperinflation 1923 reichte in Deutschland keine Brieftasche mehr. Größere Geldsummen wurden schubkarrenweise transportiert. Über Nacht verschwanden die Ersparnisse eines gesamten Arbeitslebens - und wer seinen Lohn nicht gleich ausgab, konnte sich schon Stunden später nichts mehr darum kaufen. Alltag gewordener Wahnsinn, den Frederick Taylor in seinem Buch "Inflation" eindrücklich schildert.

"Um 10, 11 Uhr morgens bekommt der Mann sein Geld von der Fabrik - er gibt's direkt zu seiner Frau. Die hastet zum Laden, um etwas einzukaufen. So musste man das machen", sagt Frederick Taylor. "Man musste vor 15 Uhr einkaufen gehen, sonst wird alles teurer. Die Ladenbesitzer warteten auf den täglichen Kurs und dann gingen die Preise immer höher."

Schulden durch Reparationszahlungen und Kriegsanleihen

Die Wurzeln des gewaltigen Währungsverfalls liegen schon in den Kriegsjahren 1914 bis 1918. Die Völkerschlacht forderte nicht nur 17 Millionen Menschenleben, sie kostete die kriegsführenden Länder auch ein Vermögen - Geld, das sich das Deutsche Kaiserreich mittels Kriegsanleihen von seinen Untertanen vorstrecken ließ. Gleichzeitig hob es den Goldstandard auf - die Mark war somit nicht mehr durch Goldreserven gedeckt. Nach Kriegsende hatte Deutschland enorme Reparationszahlungen zu leisten und es stand in der Schuld der eigenen Bevölkerung. Um die Kriegsschulden abzutragen, warf der bankrotte Staat die Notenpresse an. Die Geldentwertung brachte zunächst sogar einen leichten Aufschwung - trotz des weltweiten Konjunktur-Einbruchs.

In Frankreich, Amerika, England begann 1920 eine harte Sparpolitik, erzählt Taylor. Diese führte zu Arbeitslosigkeit, aber brachte die Inflationsrate so runter. "Aber die deutschen Politiker konnten das nicht. Ihre politische Lage war zu schwach, zu wackelig. Und deswegen haben sie inkauf genommen, dass man Inflation hat."

Der verlorene Krieg, die unbezahlbaren Reparationen, die Putschversuche, mit der die junge Weimarer Republik zu kämpfen hatte - in seinem Buch beschreibt Frederick Taylor detailreich, wie sich die zunächst bewusst inkauf genommene Geldentwertung in eine kaum mehr zu stoppende Hyperinflation verwandelte. Zahlte man zu Kriegsbeginn 1914 für einen Dollar rund 4 Mark, so betrug der Kurs 8 Jahre später 1 zu 4000.

Wie wenig man sich auf die Preise verlassen konnte, zeigt diese Anekdote aus den frühen 20er Jahren, auf die Frederick Taylor bei seinen Recherchen gestoßen ist: "Ein Mann trinkt Kaffee - 1000 Mark, bestellt nochmal Kaffee - 2500 Mark. Der Kaffee war teurer geworden, weil eine Stunde vorbeigegangen ist."

1 Laib Brot um 1 Billion

Im Jahr 1923 begann sich die Abwertungsspirale immer schneller zu drehen. Am Höhepunkt der Hyperinflation stand ein US-Dollar bei über 4 Billionen Mark. Ein Laib Brot kostete jetzt eine Billion. Besonders betroffen von der Hyperinflation war der Mittelstand, erzählt Taylor:

"Die Gehälter der Beamten, Akademiker - vor dem Krieg hatten sie ein gutes Leben." Leute aus den Oberschichten hätten einen starken Einbruch hinnehmen müssen - auch an sozialem Prestige, was schmerzte. "Rentner, Kriegerwitwen, versehrte Soldaten, die haben von Anfang an gelitten." Bis auf ein paar Schieber und Spekulanten wussten alle, dass man eine Währungsreform notwendig war, "sonst bricht der ganze Staat zusammen".

Die Hyperinflation kam erst zum Stillstand, als im November 1923 die Rentenmark eingeführt wurde. Der Wechselkurs: eins zu einer Billion. Die Kriegsschulden Deutschlands, 154 Millionen Reichsmark, schrumpften so über Nacht auf gerade einmal 15 Pfennige. Der Staatshaushalt erholte sich nur langsam. Erst Jahre später, 1928, erreichten die Reallöhne wieder das Niveau der Vorkriegszeit. Ein Trauma, das die Nationalsozialisten zu nutzen wussten - und das bis heute in den Köpfen der Deutschen nachwirkt.

Dieser große Sturz von einer Beinahe-Weltmacht, das ging durch die Generationen, sagt Taylor. Das sei irgendwie in das Unterbewusste der Deutschen gedrungen. Österreich, Ungarn, Italien, Griechenland - sie alle hatten eine Hyperinflation, "aber irgendwie vergaß man das einigermaßen".

Harte Währung als Teil der Wirtschaftskultur

Ob Bankenkrise, Staatsschulden oder Rettungsschirm: Wenn es um Entscheidungen auf dem Finanzsektor geht, dann tritt sie wieder zutage, jene Angst vor der Geldentwertung, meint Frederick Taylor. Die "harte Währung", egal ob Mark oder Euro, die sei in Deutschland Teil der Wirtschaftskultur geworden - eine Haltung, die unsere deutschen Nachbarn bei vielen EU-Bürgern so unbeliebt macht.

"Deutschland ist wie ein muffiger Onkel, eine muffige Tante, die das Portemonnaie zu Weihnachten nicht aufmachen will", so Taylor. "Und die Neffen sind sauer auf sie. Aber die Disziplin in deutschen Gehirnen ist wie eine Versicherung, wie der Goldstandard früher war."

Frederick Taylors 400 Seiten starkes Buch über die Inflation in Deutschland ist keine nüchterne Aufzählung der historischen Fakten. Es beschreibt in vielen Zitaten und Anekdoten ein Land im Fall - und als Leserin, als Leser, wird man mitten hineingezogen in den Abwärtstaumel.

Service

Frederick Taylor, "Inflation. Der Untergang des Geldes in der Weimarer Republik und die Geburt eines deutschen Traumas", aus dem Englischen übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt, Siedler Verlag