Alles über ein unterschätztes Organ

Darm mit Charme

"Warum interessiert sich eigentlich niemand für den Darm?", fragte sich die junge, deutsche Medizinstudentin Giulia Enders und begann zu recherchieren. Die ersten Ergebnisse präsentierte sie dann beim Science Slam in Freiburg und gewann mit ihrer pfiffigen Performance den ersten Preis.

Der Vortrag wurde zum YouTube-Hit, die humorvolle Blondine zur Buchautorin, das Buch zum Bestseller und der Darm zum plötzlich nicht mehr stiefmütterlich vernachlässigten Teil unseres Körpers. "Darm mit Charme - Alles über ein unterschätztes Organ" heißt Giulia Enders Buch.

Wohlbefinden durch Darmpflege

Höchste Zeit also, das "schwarze Schaf unter den Organen" mit viel Witz zu enttabuisieren und einem Imagewandel zu unterziehen. Neueste Forschungen legen schließlich nahe, dass die Darmpflege entscheidend zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Übergewicht, Allergien und Depressionen können mit einem gestörten Gleichgewicht der Darmflora zusammenhängen.

Zunächst einmal stürzt sich Enders voller Elan in die Erklärung der Funktionsweise unseres größten Organs. Diese Reise beginnt beim Auge, das bekanntlich "mitisst", und endet beim äußeren Schließmuskel am Ende des Dickdarms. Viele der erläuterten Abläufe dürften bekannt sein, einige Informationen verblüffen dennoch. Und das beginnt schon im Mund: Der kräftigste Muskel unseres Körpers ist der Kiefermuskel. Bis zu 80 Kilogramm Druck können wir dadurch auf einen Backenzahn ausüben. Zahnschmelz ist das härteste Material, das wir körperintern herstellen können.

Der Mensch ist bewusst so gebaut, dass er sich übergeben kann. Pferde können das beispielsweise nicht. Sie haben eine zu lange, enge Speiseröhre. Außerdem fehlen ihnen die "kotztalentierten Nerven". Der Magen wiederum ist viel bewegungsfreudiger als vielfach angenommen. Kurz bevor Material kommt, entspannt er sich und macht Platz. Starke Emotionen wie Stress oder Angst können den Dehnvorgang der Magenmuskulatur allerdings erschweren. Dann haben wir schneller ein Sättigungsgefühl oder es wird uns übel. Der Dünndarm ist der fleißigste Abschnitt unseres Verdauungsrohrs.

Knurren zur Reinigung

Auch nach der aufwändigen Verdauung liegen in Magen und Dünndarm noch gröbere Essensreste. Jetzt kommt ein faszinierender Mechanismus ins Spiel, den biologische Lehrbücher "wandernder motorischer Komplex" nennen. Dabei öffnet sich der Magenpförtner und "wischt" diese Reste zum Dünndarm. Dieser erzeugt eine kräftige Welle und spült sich selbst kräftig durch. Jeder hat diesen Vorgang schon einmal als Magenknurren gehört.

Der Dickdarm hingegen arbeitet bewusst langsam, weil er verschiedene Ansprüche berücksichtigen muss. Das Gehirn wünscht sich keinen ständigen Stuhlgang, die Darmbakterien brauchen Zeit, um die unverdaute Nahrung zu bearbeiten und der restliche Körper will die verliehenen Verdauungsflüssigkeiten zurück. Auch in diesem Bereich tritt Ungeahntes zutage:

Zwei Kilo Bakterien

Der wesentliche Teil des Buches beschäftigt sich aber mit der Frage, wie der Darm Gesundheit und Wohlbefinden beeinflusst, eine der neuen medizinischen Forschungsrichtungen. Giulia Enders bringt einen frappierenden Vergleich: Während unsere Urahnen bis zu 500 verschiedene Pflanzen aßen, stammt unsere Nahrung heute größtenteils von nur 17 Nutzpflanzen. So gesehen sei es nicht besonders merkwürdig, wenn unser Darm damit nicht immer zurechtkommt. Weizen zu fast jeder Mahlzeit, Fruktose in fast jedem Fertigprodukt und Milch lange nach der Säuglingszeit - verwunderlich ist es nicht, dass Allergien, Unverträglichkeiten und Intoleranzen zunehmen.

Entscheidend für nahezu sämtliche Verdauungsvorgänge sind die gut 100 Billionen Bakterien, die uns bevölkern. Diese können gemeinsam bis zu zwei Kilogramm schwer sein.

Es ist erstaunlich, wie wenig weit die Erforschung von Darmbakterien fortgeschritten ist. Vor zehn Jahren war die Wissenschaft noch davon überzeugt, dass der Bestand bei allen Menschen ungefähr gleich ist. Bei Stuhlproben fanden sich beispielsweise immer E.coli-Bakterien. Mit modernen Geräten entdeckt man plötzlich über tausend verschiedene Bakterien-Spezies. Immer wieder werden völlig unbekannte Arten oder bekannte Arten an unerwarteten Orten gefunden. Amerikanische Forscher untersuchten 2011 zum Vergnügen Bauchnabelfloren und entdeckten Bakterien, die man bis dahin nur aus dem Meer vor Japan kannte.

Eine abenteuerliche Reise

Vor allem die Kapitel über Helicobacter, Toxoplasmen, Antibiotika, Probiotika und Präbiotika machen klar, welche entscheidende Rolle die Zusammensetzung unserer Darmflora für unsere Gesundheit hat und wie sehr die Wissenschaft hier noch auf wackligen Beinen steht.

Enders abenteuerliche Reise zu den noch viel zu wenig erforschten Teilen unseres Körpers überzeugt mit überraschenden Fakten und einer überaus vergnüglichen Erzählweise, kongenial unterstützt durch die schelmischen Illustrationen ihrer Schwester Jill Enders. Für Menschen, die sich diesem Thema aus Ekel bisher stets verschlossen haben, eine ideale Annäherungsmöglichkeit.

Service

Giulia Enders, "Darm mit Charme. Alles über ein unterschätztes Organ", Ullstein Verlag