"Finding Vivian Maier": Unbekannte Fotografien

Die Geschichte der Straßenfotografie im 20. Jahrhundert schien geschrieben, die großen Säulenheiligen wie Henri Cartier-Bresson oder Robert Frank standen fest, doch dann kam es zu einem Zufallsfund: Plötzlich tauchten die Fotos einer bisher völlig unbekannten Künstlerin in dieser von Männern beherrschten Domäne auf. Der Dokumentarfilm "Finding Vivian Maier" folgt jetzt den Spuren dieser extravaganten und höchst geheimnisvollen Fotografin, die mittlerweile als eine neue zentrale Figur der Straßenfotografie gehandelt wird.

Mittagsjournal, 8.9.2014

Vivian Maier mit Kamera

(c) Vivian Maier/Collection John Maloof Courtesy Howard Greenberg Gallery, New York Les Douches La Galerie, Paris

Getarnt als Kindermädchen

John Maloof ist Stadthistoriker in Chicago und deshalb immer auf der Suche nach alten Fotografien. Auf einer Auktion fiel ihm durch Zufall der Nachlass einer gewissen Vivian Maier in die Hände, Schachteln voller Negative und noch unentwickelter Filme. Schnell erkannte er die hohe Qualität der Aufnahmen, begann Nachforschungen über die unbekannte Fotografin anzustellen und erlebte eine Riesenüberraschung, so Regisseur Charlie Siskel: "Das ist die Geschichte einer Künstlerin, die ihr Leben lang als Kindermädchen arbeitete. Dieser Job war aber nur Mittel zum Zweck, eine Art Tarnung und Maske, die ihr erlaubte, diese großartigen Fotos zu machen."

An die 150.000 Bilder hat Vivian Maier von den 1950er-Jahren bis zu ihrem Tod 2009 gemacht. Unauffällig und bieder gekleidet, erregte sie dabei auch kaum Aufsehen. Wie eine Fabrikarbeiterin in der Sowjetunion der 1950er-Jahre habe sie ausgesehen, erinnert sich ein Zeitzeuge im Film.

Schattenseiten des Lebens belichtet

Ein Geheimnis machte Vivian Maier auch aus ihrer Herkunft. Als Tochter einer Französin und eines Österreichers wurde sie in New York geboren, brach den Kontakt zu ihrer Familie aber bald ab und verwendete danach verschiedene Namen. Verheiratet war sie nie. Als selbst erklärte Außenseiterin gehörte auch ihr Interesse den Außenseitern der Gesellschaft. Regisseur Charlie Siskel:

"Sie dokumentierte das Leben auf der Straße, meist allein, manchmal nahm sie aber auch die Kinder, die sie beaufsichtigen sollte, mit. Und dann ging sie mit ihnen aus den reichen Wohngegenden hinaus und mitten hinein in die gefährlichsten Viertel von Chicago. Diese Kinder, die wahrscheinlich gerne in den Zoo gegangen wären, mussten sich dann auf Schrottplätzen herumtreiben."

Fasziniert war Vivian Maier von den Schattenseiten des Lebens und all den Meldungen, die den Wahnsinn der Menschheit offenbarten, erzählt diese Zeitzeugin im Film. Deshalb sammelte sie manisch Zeitungen und spielte auch selbst Journalistin. Charlie Siskel: "Sie war häufig mit ihrem Tonbandgerät unterwegs und machte Interviews mit den Menschen auf der Straße zur politischen Lage. Als Präsident Nixon angeklagt wurde etwa. Sie arbeitete wie eine verbissene Journalistin, aber nur für ihren eigenen geheimen Sender."

Spannende filmische Spurensuche

Warum sie ihr Werk so vollständig unter Verschluss hielt, bleibt ein Geheimnis. Auf Selbstporträts ist sie als melancholische und unnahbare Frau zu sehen. Dass sie auch eine gehörige Portion schwarzen Humors besaß, zeigen viele ihrer Schnappschüsse und ihre autobiografischen Tonaufnahmen.

"Finding Vivian Maier" stellt nicht nur das überragende Werk dieser Ausnahmefotografin vor, sondern funktioniert auch als spannende filmische Spurensuche. Und das vor allem, weil die beiden Regisseure John Maloof und Charlie Siskel mit der gleichen Leidenschaft ans Werk gegangen sind wie einst ihre Protagonistin.

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