Viele Blicke zurück und nach vorne

Ein Ö1 Schwerpunkt

Es begann um acht Uhr abends mit einem "Eröffnungskonzert". Die "namhaften Kunstkräfte", die das Konzert bestritten, wurden in Anwesenheit von Bundeskanzler Ignaz Seipel und des Wiener Bürgermeisters Karl Seitz im obersten Stockwerk des Bundesministeriums für Heereswesen am Wiener Stubenring in ein "Studio" geführt und sangen und spielten, bis die Mikrofone wegen Überhitzung nach einer Pause verlangten.

Man schrieb den 1. Oktober 1924. Die RAVAG, die Radio Verkehrs AG, hatte ihren Sendebetrieb aufgenommen. Bereits am ersten Tag verfügten an die 11.000 Personen über eine Empfangslizenz. Und es sollte nicht lange dauern, bis sich das neue Medium, der "Unterhaltungsrundfunk", größter Beliebtheit erfreute. Bereits fünf Wochen, nachdem die RAVAG ihren Sendebetrieb aufgenommen hatte, war - wiewohl die Dichter und Denker eine Weile skeptisch blieben - aus den scheppernden Lautsprechern der Empfangsgeräte das erste "wortdramatische Werk" zu hören: die Bearbeitung einer jahrhundertealten Dichtung von Johanns von Saaz mit dem Titel "Der Ackermann aus Böhmen".

"Im Gegensatz zu der sehr anständigen Bezahlung der Schauspieler und sonstigen Vortragenden", mäkelte Bert Brecht in den Anfangsjahren, "sind die literarischen Honorare so schlecht, dass auf die Dauer solche Arbeiten für das Radio nicht zustande kommen können". Erfreulicherweise irrte der Dichter hier. Gründlich. Denn heute, 90 Jahre später, gibt es das Medium Radio immer noch.

Mehr als 80 Prozent der österreichischen Gesamtbevölkerung hört täglich Radio, drei Viertel aller gehörten Radiominuten entfallen auf den ORF. Geändert haben sich freilich die sogenannten Ausspielwege. Die Zeiten, wo die Familie sich geschlossen um den "Apparat" versammelte, sind vorbei. Zwar gibt es nach wie vor in fast allen Haushalten das gute, alte Küchenradio, mittlerweile aber hört man den Livestream über entsprechende Apps, man kann unzählige Radiosender aus aller Welt via Internet empfangen und Programmangebote zeitversetzt nachhören.

Ende September feiert Ö1 aus gegebenem Anlass das 90-Jahr-Jubiläum unseres Mediums mit einer Reihe von Sendungen. Es wird Rückschau gehalten - aber wir blicken auch in die Zukunft. Denn die technologischen Entwicklungen sind keineswegs abgeschlossen. Wie und womit man in fünf oder zehn Jahren Radio hören wird, wissen wir heute nicht. Sicher ist nur: Wir werden auch noch weitere runde Radiogeburtstage feiern. Denn auch wenn der scharfzüngige Karl Kraus die Demokratisierung von Bildung, Information und Unterhaltung vor 90 Jahren gar nicht gutheißen wollte - im Kern traf er den Nagel auf den Kopf, als er etwas dünkelhaft meinte: "Großes Heil ist der Welt erflossen: Der Hausmeister (ist) an den Kosmos angeschlossen."

Text: Peter Klein, Stellvertrender Ö1 Programmchef