Plädoyer für mehr Mitmenschlichkeit
Wider den Gehorsam
Der Psychologe und Psychoanalytiker Arno Gruen hat mit "Wieder den Gehorsam" ein brisantes und kluges Buch geschrieben.
8. April 2017, 21:58
In so manchen Büros hängen Kalender, die Weisheiten hinsichtlich des Arbeitsalltags zum Besten geben - etwa der Satz: "Der Chef lenkt, wir lenken ein." Auch wenn man einen solchen Spruch nicht unbedingt belustigend findet, so gilt doch: Jeder weiß, was gemeint ist. Das ist bei folgendem Aphorismus des italienischen Staatsphilosophen Niccoló Machiavelli nicht unbedingt der Fall: "Nur der Gehorsam dauert, der freiwillig ist."
Gehorsam sein ist etwas, das man schon als Kind erlernt hat, etwas, das einem aufgezwungen wurde, etwas, von dem man zähneknirschend annimmt, dass es vernünftig wäre, es zu praktizieren - etwa eben bei Meetings in der Chefetage. Aber was hat Gehorsam mit Freiwilligkeit zu tun?! Machiavelli will Folgendes sagen: Wer Macht hat und somit andere offensichtlich zum Gehorsam verpflichtet, ist kein großer Künstler. Zudem kann jeder, der Gehorsam leisten muss, eines Tages, wenn auch leise, revoltieren, eben ungehorsam werden. Doch jemand, der freiwillig gehorsam ist, ist eigentlich einer, der gar nicht weiß, dass er so etwas tut. Er fühlt sich frei und steckt trotzdem im Korsett des Gehorsams. Gibt es so etwas? Ja, sagt der Psychologe und Psychoanalytiker Arno Gruen und zeigt solche Machtverhältnisse in seiner Schrift "Wider den Gehorsam" auf.
"Freiwilliger" Gehorsam
Der erste, freiwillige, aber doch anerzogene Gehorsam betrifft das Verhältnis des Kleinkindes zu den Eltern.
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Die Macht der Eltern über uns erkennen wir nicht, denn in unserer Kultur gelten Mutter und Vater als allwissend, als wohlwollend, weil sie nur das Beste für uns wünschen.
Gehorsam tritt hier unter dem Deckmantel des Wohlwollens und der Besorgtheit auf den Plan. Man könnte das auch so sagen: Unterdrückt wird, weil geliebt wird. Für Arno Gruen ist dies die erste Form von freiwilligem Gehorsam. Aber parallel zum Familien-Gehorsam läuft noch ein viel umfangreicherer ab. Denn unsere westliche, wirtschaftsliberale Gesellschaft "verherrlicht den Verstand und macht ihn zum Problem, indem sie von Geburt an unser Gefühlsleben verkümmern lässt".
Vernunft statt Gefühl
In der Tat ist ein an Vernunft und Verstand orientiertes Denken und Handeln prägend für unsere Kultur. Gefühle spielen im Leben die zweite Geige. Wir alle sind also freiwillig dem Verstand gegenüber gehorsam - und finden das vernünftig. Aber ein solches Verhalten hat für Arno Gruen Folgen.
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Alles wird zum Ausdruck eines Überlebenskampfes, dessen Ziel es ist, nicht abgewertet zu werden und vor allem nicht zu versagen. Leben als Ausdruck von Liebe, von emphatischen Wahrnehmungen und menschlichem Mitgefühl, geht verloren.
Nährboden für Faschismus
Der doppelte freiwillige Gehorsam gegenüber den Eltern und der Gesellschaft kann individuelle Probleme, aber auch kollektive Katastrophen herbeiführen. Für Arno Gruen sind die beschriebenen Gehorsamsstrukturen der Boden, auf dem der Faschismus blüht, einschließlich der Shoa, einschließlich der Vernichtung alles Fremden.
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Mit dem Gehorsam geben wir unsere eigenen Gefühle und Wahrnehmungen auf. Wird ein Mensch im Lauf seiner Identitätsentwicklung einmal dazu gezwungen, verläuft seine Entwicklung nach völlig anderen Regeln, als es das heute gängige psychologische Denken annimmt und vorgibt: Das Festklammern an der Autorität wird dann zu einem Lebensgrundsatz. Obwohl man die Autorität hasst, identifiziert man sich doch mit ihr. Man kann gar nicht anders. Die Unterdrückung des Eigenen löst Hass und Aggressionen aus, die sich aber nicht gegen den Unterdrücker richten dürfen, sondern an andere Opfer weitergegeben werden.
"Normal" ist, wer sich anpasst
Wer aber glaubt, dass solche Prozesse aggressiven Gehorsams nur in restriktiven, diktatorischen Gesellschaften stattfinden, der irrt. Der zerstörerische Gehorsam wirkt mitten unter uns.
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Der Wahrheit ins Auge zu blicken, fällt uns schwer. Wir sind gefangen in der Angst, zu sehen, was wirklich ist. Um dies zu erkennen, brauchen wir eine ganz andere Art von Psychopathologie als die heute übliche. Wir stufen diejenigen Menschen als normal ein, die sich der allgemeinen Verleugnung anpassen und so in unserer Kultur erfolgreich operieren.
Verleugnen heißt für Arno Gruen: Wegschauen, dem Anderen nicht beizustehen, sondern ihn als "Fremden", als Konkurrenten zu begreifen. Verleugnen heißt auch, wegschauen, was um uns herum - im Kleinen wie im Großen - passiert. Es gibt in unserer Gesellschaft einen Erfolgs- und Karrieregehorsam, der bildhaft gesprochen über Leichen geht. Wie heißt es so schön: "The winner takes it all." Für Arno Gruen ist eine solche Haltung zum eigenen wie zum Leben der Anderen nicht akzeptabel. Etwas scherzhaft zitiert er den englischen Dichter Edward Young.
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Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien.
Beispiel Fukushima
Doch Arno Gruen ist es ganz ernst: Wenn wir nicht unser Gehorsamsverhalten ablegen, dann geht diese Welt einen schlechten Weg. Ganz zu Anfang seines Buchs zitiert der Autor den Bericht einer Untersuchungskommission zum Atomunfall in Fukushima. Nur weil die japanische Aufsichtsbehörde sich der Meinung des Kraftwerkbetreibers Tepco völlig unterwarf, konnte das Unglück solche Ausmaße annehmen. Ein solch kritikloser Gehorsam geht uns alle an. Und genau deswegen, sollte man seinem eigenen "Ungehorsam" mehr Vertrauen schenken.
Zitat
Eine bessere Welt wird sichtbar, wenn der verblendete Gehorsam aufgebrochen wird und sich in echte zwischenmenschliche Empathie verwandelt. (…) Mut, Herz und offenes Denken sind die Kräfte, die den Gehorsam besiegen.
Wer Arno Gruens brisantes und kluges Buch gelesen hat, weiß eines: "Wider den Gehorsam" leben und agieren, will gelernt sein. Es erfordert eben Mut und Kraft, um gegen den Strom zu schwimmen.
Service
Arno Gruen, "Wider den Gehorsam", Klett-Cotta 2014