"Meilenstein" für gemeinsame Obsorge

Seit knapp zwei Jahren können getrennt lebende Väter und Mütter in Österreich die gemeinsame Obsorge beantragen. Aber die Gerichte können nicht vorschreiben, dass die Kinder abwechselnd bei Vater und Mutter wohnen. Das können die Eltern nur privat vereinbaren. Die Politik hat diese "Doppelresidenz" aus dem Gesetzesentwurf herausgenommen. Trotzdem haben ein Bezirksgericht und das Landesgericht Wien jetzt erstmals für ein Kind eine Doppelresidenz angeordnet - ein Meilenstein, finden Anhänger dieser Lösung.

Morgenjournal, 30.10.2014

Kindeswohl geht vor

Schon seit zehn Jahren lebt das Kind, um das es im Rechtsstreit geht, abwechselnd und praktisch im gleichen Ausmaß bei Mutter und Vater. So gesehen machen sie halbe/halbe, obwohl sie getrennt sind. Aber die Mutter hatte die alleinige Obsorge, weil die Eltern nie verheiratet waren. Im Vorjahr beantragte der Vater die gemeinsame Obsorge, um den Status zu legalisieren. Die Mutter war dagegen, weil es Konflikte gebe und der Vater sich nicht an Vereinbarungen halte.

Eigentlich müssten die Gerichte - wenn sich die Eltern nicht einig sind - nach Paragraph 177 des Bürgerlichen Gesetzbuches einen hauptsächlichem Aufenthalt bei einem Elternteil festlegen - das wäre wohl bei der Mutter gewesen. Im konkreten Fall aber sind nun, vorerst für eine Probezeit, beide Wohnorte, also die sogenannte Doppelresidenz, gerichtlich bestätigt. Das Kindeswohl sei nämlich auch gesetzlich verankert, sagt die Sprecherin des Landesgerichts Wien, Beatrix Engelmann: "Die Gerichte der ersten und der zweiten Instanz sind davon ausgegangen, dass die seit Jahren gelebte Realität im Sinne des Kindes ist. Und es ist das Kindeswohl das allerwichtigste Kriterium. Es geht gar nicht so sehr darum, die gerechteste Lösung zwischen den Eltern zu finden, sondern jene, die für das Kind am besten ist."

Befürworter sieht "Meilenstein"

Mehr noch: Das Kindeswohl könne gefährdet sein, wenn die Doppelresidenz nicht genehmigt wird, weil dann die Eltern womöglich mehr streiten, argumentiert das Gericht. Es übernimmt damit eine Argumentation von Justiz-Sektionschef Georg Kathrein in einer Juristen-Zeitschrift, wonach das Kindeswohl vorgeht. Kathrein und seine Abteilung hatten ursprünglich die Doppelresidenz überhaupt in ihrem Gesetzesentwurf vorgesehen. Aber die SPÖ und Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek waren dagegen - unter Berufung auf Experten wie den Kinder-Psychiater Max Friedrich, wonach jedes Kind einen hauptsächlichen Wohnort haben sollte. Anton Pototschnig, Obmann der Plattform Doppelresidenz, sieht das anders und sagt zu dem Urteil: "Das ist ein Meilenstein, da das Gericht darauf Bezug nimmt, dass die Doppelresidenz nach wie vor noch nicht im Gesetz verankert ist und das letztlich auch zu Streitsituationen zwischen den Eltern führen kann. Das scheint mir ein Hinweis zu sein, dass die Doppelresidenz im Gesetz verankert werden und sich Österreich in Richtung europäischer Normalität bewegen soll."

In Schweden, Belgien und Frankreich etwa sei die Doppelresidenz fast ein Normalfall. Laut Pototschnig betreuen in Österreich vor allem getrennt lebende Akademiker ihre Kinder oft je zur Hälfte, indem sie sich privat darauf einigen - ohne gerichtliche Absicherung. Übrigens: Juristen zufolge ist die Verankerung der Doppelresidenz im Gesetz vor allem am Thema Unterhaltszahlungen gescheitert. Denn bei abwechselnder Betreuung der Kinder fallen die Unterhaltszahlungen ganz oder weitgehend weg. Frauenvertreterinnen haben finanzielle Verschlechterungen für alleinstehende Mütter befürchtet.