Günter M. Ziegler über den praktischen Wert ästhetischer Zahlen
Mathematik - das ist doch keine Kunst
Als Popstar der Mathematik wird Günter Ziegler herumgereicht. Tatsächlich ist der Zugang des Berliner Mathematikprofessors zur Welt der Zahlen, Formeln und Gleichungen alles andere als traditionell.
8. April 2017, 21:58
Für ihn strahlt Mathematik eine Ästhetik aus, die er mit seinen Mitmenschen teilen möchte - und zwar am liebsten mit jenen, die an den Mathematikunterricht ihrer Schulzeit mit leichtem Gruseln zurückdenken.
Für sein neuestes Werk wählte der mehrfach preisgekrönte Mathematiker daher einen Zugang, den jeder verstehen soll: in einer Art Bilderbuch betrachtet Günther Ziegler gemeinsam mit seinen Leserinnen und Lesern 24 Abbildungen, die zeigen, dass Mathematik mehr ist, als nur das Lösen kniffeliger Aufgaben - wenn auch einige der Zeichnungen, Grafiken und Fotos auf den ersten Blick nur wenig mit Mathematik zu tun haben.
Günter Ziegler
Ich habe ja meinen eigenen Respekt vor der Mathematik, und es gibt in der Mathematik Dinge die sind unglaublich kompliziert, und die kann man eigentlich nur verstehen, wenn man es jahrelang studiert. Aber ich hab zum Beispiel in dem Buch eine Grafik von einem Pariser Künstler, Bernar Venet, der da eine Formelsprache aus der Topologie abmalt. Die braucht man gar nicht verstehen, um zu sehen, dass es faszinierend ist. Ich will illustrieren, wie bunt und vielfältig Mathematik ist, was da für tolle Menschen dahinter stecken, und dass es wunderbar viele Geschichten zu entdecken gibt.
Wie etwa die Geschichte rund um ein Foto, auf dem in Großaufnahme ein 102 Millimeter langer und wenige Millimeter dicker Knochen abgebildet ist. Der Knochen führt den Leser nach Zentralafrika - 22.000 Jahre vor Christus. Aus dieser Zeit nämlich stammt der sogenannte Ishango-Knochen, den ein belgischer Geologe in den 1950er Jahren im Ort Ishango nahe dem Edward-See gefunden hat, und der heute im Museum für Naturgeschichte in Brüssel ausgestellt ist.
Ob das steinzeitliche Knöchlein vom Unterarm eines Pavians oder vom Zehenglied eines Löwen stammt, darüber sind sich die englische und die deutsche Ausgabe der Onlineenzyklopädie Wikipedia nicht einig. Es ist aber auch nicht weiter relevant. Viel bedeutsamer sind die Einkerbungen auf dem Knochen:
Zitat
In einer der drei Reihen finden sich 11, 13, 17 und 19 Kerben. In einer zweiten Reihe sind vier Gruppen von 11, 21, 19 und 9 Kerben, insgesamt also wieder 60. Und in der dritten Spalte sieht man 3, 6, 4, 8, 10, 5, 5 und 7 Kerben, mit Summe 48 - wenn nicht die 10 doch eine 9 ist. Die Gruppen in den einzelnen Spalten sind sehr unterschiedlich, und in jeder Spalte finden sich innere Beziehungen, die ganz anders sind als in den anderen. Damit ist das Spiel eröffnet! Was bedeuten die Zahlen? Alles Zufall?
Günter Ziegler
Wenn man diese eine Spalte mit Kerbungen abzählt, dann steht da 11, 13, 17 und 19. Und jeder Mathematiker sagt dann natürlich sofort: Primzahlen!!! Aber das können gar keine Primzahlen gewesen sein, weil zu dieser Zeit keiner Ziffern hatte, da konnte man auch nicht multiplizieren, da konnte man auch nicht wissen, was Primzahlen sind. Also vermutlich ist das eher ein Kalender, aber es ist das älteste Fundstück der Mathematik, was wir haben.
Die Markierungen sollen übrigens von einer Frau stammen, ist Günter Ziegler überzeugt:
Günter Ziegler
Um die Zeit waren die Männer draußen die Löwen jagen, um von denen nicht gefressen zu werden, also muss das eine Frau gewesen sein, die da den Kalender markiert hat. Also fängt die Mathematik auch mit den Frauen an, hab ich gelernt.
Der Bedeutung von Frauen in der Mathematik widmet Günter Ziegler ebenfalls eine Geschichte.
Anhand einer Fotoserie rund um die 1882 in Erlangen geborene Mathematikerin Emmy Noether schildert der Autor die Schwierigkeit einer jungen Wissenschafterin, sich in der akademischen Welt zu behaupten. Die begehrte Habilitation an der Universität Göttingen etwa blieb lange Zeit männlichen Kollegen vorbehalten, obwohl sich David Hilbert vom damaligen Weltzentrum der Mathematik in Göttingen für die brillante Mathematikerin einsetzte.
Zitat
Immerhin konnte David Hilbert 1917 erreichen, dass Emmy Noether offiziell ihre Vorlesungen an der Universität Göttingen halten durfte - allerdings mussten sie unter Hilberts Namen angekündigt werden, und sie firmierte als seine „Assistentin“. Erst 1919 wurden die Gesetze und Regelungen geändert, so dass Noether eben doch habilitieren, in Göttingen als Privatdozentin und ab 1922 als „nichtbeamteter außerordentlicher Professor“ lehren konnte.
Dass Mathematik auch mit Politik verknüpft ist, zeigt der Autor im Zusammenhang mit dem Foto einer Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau - aufgenommen sechs Tage nach den russischen Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011.
Mit beiden Händen hält ein Demonstrant ein Plakat in die Höhe, auf dem die Wahlergebnisse aus allen 95.000 Wahlbezirken grafisch und prozentuell aufgeschlüsselt sind. Darüber und darunter je ein Satz in roten Buchstaben:
Günter Ziegler
Auf dem Poster steht drauf, wir glauben nicht an Tschurow, wir glauben an Gauss. Tschurow ist der Wahlleiter der russischen Republik, Gauss ist der Mathematiker. Und diese Grafik soll beweisen, dass die Wahlen gefälscht waren damals, die Parlamentswahlen in Russland, die zeigen nämlich ganz merkwürdige Stimmenverteilungen für genau die Partei "Einiges Russland" von Herrn Putin. Ich habe mir die Originalgrafik besorgt, ich habe die auch teilweise getroffen, die diese Grafiken gemacht haben, und die haben mir erklärt, was sie da gemacht haben
Hinter der Grafik stehen drei russische Wissenschafter. Sie haben ihre Analysen der Parlamentswahlen vom 4. Dezember 2011, sowie auch der Präsidentschaftswahlen vom 4. März 2012 unter dem Titel „Statistische Analysen in den Russischen Wahlen 2011 und 2012 aufgedeckt durch 2D-Korrelationsanalyse“ auf einem Webportal veröffentlicht - und damit offenbar einiges bewirkt:
Günter Ziegler
Jetzt kürzlich, als die Moskauer Bürgermeister gewählt haben, haben die sich das eben wieder angeschaut, und da ist dann offenbar nicht mehr gefälscht worden. Da hat dieser Regime-Kritiker dann ja plötzlich 25 Prozent gemacht, das wäre vorher nicht möglich gewesen. Und das ist sozusagen Mathematik in den Händen der Nicht-Mächtigen, die dann sogar in Russland was bewirken können, da war ich dann schon sehr stolz drauf.
Service
Günter M. Ziegler, "Mathematik - das ist doch keine Kunst", Knaus Verlag
Gestaltung: Sylvia Sammer