Von Klaus-Jürgen Bremm
Das Zeitalter der Industrialisierung
Wann die bis heute laufende Industrialisierung wirklich begonnen hat, ist strittig und man muss wohl auch nach Regionen differenzieren. Unbestritten ist das Wort von der in England einsetzenden Industriellen Revolution, unbestritten ist auch Eric Hobsbawns These vom "langen neunzehnten Jahrhundert", das 1780 begonnen und 1914 geendet hat, eine ereignisreiche Zeitspanne die der Militär- und Technikhistoriker Klaus Jürgen Bremm als "Zeitalter der Industrialisierung" beschreibt.
8. April 2017, 21:58
Das 1848 von Karl Marx und Friedrich Engels verfasste "Kommunistische Manifest" trägt seinen Titel zu Recht. Es ist ein Aufruf zum Klassenkampf, der "neuen Klasse", den Arbeitern, wird die historische Mission zugeschrieben, die andere "neue Klasse", die Bourgeoisie zu stürzen.
Doch gleichzeitig artikuliert der Text die Bewunderung seiner Autoren für die Dynamik ebendieser Bourgeoisie und ihrer ökonomischen Organisationsform, des Kapitalismus. Und vor allem ist das Manifest ein früher - einseitiger - Versuch einer kritischen Analyse der gesellschaftlichen Veränderungen, die das neue industrielle System und seine Trägerklasse bewirkt haben.
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Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose "bare Zahlung". Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
Klaus Jürgen Bremms Ansatz zum Verständnis des Zeitalters der Industrialisierung ist breiter als der von Marx und Engels und enthält sich der Polemik. Warum hat die neue Produktionsform zwingend das feudale System abgelöst, was waren ihre sozialen und technologischen Voraussetzungen, warum gab es "Pioniere" wie England und "Nachzügler" wie Russland, wer waren die Protagonisten und vor allem: Was waren die Auswirkungen auf die Lebensform der sich industrialisierenden Länder, auf ihre Politik, ihre Kultur, ja auch ihre Kriegsführung.
Opfer der maschinellen Produktivität
Bremms Untersuchung breitet eine ungeheure Materialfülle aus. Bleiben wir beispielhaft bei der Frage, welche Voraussetzungen England zur Bühne der Industriellen Revolution machten und was sich dort ereignete: Hier wurden die neuen Technologien entwickelt, die Bremm nachvollziehbar erklärt, hier gab es eine Volkswirtschaftslehre und ein Steuersystem, die dem Egoismus und dem Profit wohlgesonnen waren, einen Rechtsstaat, billige Energie, gute Verkehrswege und eine mobile Arbeiterklasse.
Doch gerade die Arbeiter wurden im Verlauf der europäischen Durchsetzung schnell zum Opfer der maschinellen Produktivität und des zunächst ungezügelten Gewinnstrebens. Die Beispiele ihrer Lebensführung, die Bremm anführt, erinnern an das China der Wanderarbeiter oder an das heutige Bangladesh. Klaus Jürgen-Bremm zitiert etwa aus der Hausordnung der Nürnberger Firma Klett 1840, die Arbeiter, die den "blauen Montag" feierten, der Polizei übergaben:
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Die tägliche Arbeitszeit betrug damals elfeinhalb Stunden. Pünktlichkeit war ein Schlüsselthema und Verstöße wurden mit Lohnabzügen geahndet, welche die versäumte Arbeitszeit gleich um das Doppelte übertrafen. Wer etwa zehn Minuten zu spät am Firmentor erschien, wurde nicht mehr eingelassen und gleichfalls mit doppeltem Lohnabzug bestraft.
Der neue Menschentyp
Ähnlich rücksichtslos war der Umgang mit der Natur, aus dem Umweltprobleme resultierten, die uns heutigen durchaus vertraut sind. Eine "sanfte" Industrialisierung ist offensichtlich nur in Kleinstregionen denkbar, auch die unter sozialistischen Bedingungen verlief ähnlich brutal.
Doch gleichzeitig produzierte das industrielle System einen neuen Menschentyp: Die Alphabetisierung nahm zu und die Auffassung, dass niedrige Löhne keineswegs höhere Profite garantierten begann sich durchzusetzen. Allmählich stiegen die Löhne, bis schließlich Henri Ford die für das zwanzigste Jahrhundert grundlegende Idee entwickelte, dass der gutbezahlte Arbeiter gleichzeitig ein gutzahlender Kunde sein kann.
Vorläufer der Konsumgesellschaft
Der mittlerweile international konkurrierende Industrialismus hat also den Vorläufer unserer Konsumgesellschaft produziert, der sich eine eigene Ästhetik schuf und seine Produkte auf den legendären Weltausstellungen in London 1851, Paris 1867 und 1889 und Wien 1873 zeigte. Die Londoner Ausstellung etwa konnte nicht nur mit dem legendären Glaspalast punkten, - etwa sechs Millionen Besucher aus aller Welt betrachteten die Produkte von mehr als 17.000 Ausstellern.
Die Wiener Weltausstellung hingegen konfrontierte die Welt mit einer hässlichen Begleiterscheinung des industriell-kapitalistischen Systems: eine ungebremste Spekulationslust nicht nur der Wiener Bevölkerung, verbunden mit "In-Side-Trading" löste den ersten "Schwarzen Freitag" aus, eine globale Krise der Weltwirtschaft; auch das ein den Heutigen vertrautes Phänomen.
Doch bis heute, so Klaus-Jürgen Bremm, ist kein überzeugender gesellschaftlicher Gegenentwurf zu den Imperativen der globalen Industrie gelungen. Und so hat er - bei aller Kritik - ein kluges Inventar der heute noch laufenden Innovationen des Industrialismus angelegt, das neben Anderen durch eine Vielzahl von unbekannten Illustrationen besticht.
Service
Klaus Jürgen Bremm, "Das Zeitalter der Industrialisierung", Theiss-Verlag