Zwischen Hirnforschung und Psychotherapie

Wie das Gehirn die Seele macht

Was unbewusst war, werde unbewusst bleiben, aber dennoch auf die Psyche wirken, so lautet nur eine der Thesen des neuen Buches von Gerhard Roth, das er zusammen mit seiner Mitarbeiterin Nicole Strüber verfasst hat.

In "Wie das Gehirn die Seele macht" geht es aber nicht nur darum, Glaubenssätze der bekannten Therapieformen zu hinterfragen. Vielmehr wollen die beiden Autor/innen Hirnforschung und Psychotherapie zusammenbringen, Persönlichkeitsentwicklung und psychische Erkrankung aus neurobiologischer Perspektive beschreiben.

Wie die Seele "emergiert"

Gerhard Roth und Nicole Strüber sind keine "Reduktionist/innen" – sie behaupten also nicht platt, dass Gehirn und Seele identisch seien. Vielmehr wollen sie die Psyche als ein Produkt sehr komplexer neurochemischer Prozesse beschreiben. Sie wollen zeigen, wie die Seele "emergiert", also aus dem hervorgeht, was sich im Gehirn abspielt.

Um das zu begründen, geben sie im ersten Drittel des Buches dicht gedrängte Informationen zum Aufbau des Gehirns und der Areale des so genannten "Limbischen Systems", in dem die Entstehung von Emotionen verortet wird. Für Laien klingen diese Referate streckenweise recht fantastisch, so als würde das Captain-Duo Roth/Strüber per Raumschiff durch die mikrogalaktischen Sphären des Hirns gleiten:

Wirkungsebene im Fokus

Doch nicht alle Teile des Buches lesen sich so enzyklopädisch-ermüdend wie die einführenden Kapitel. Interessant an dem Buch ist, dass es aus neurobiologischer Sicht erklären will und kann wie - erstens - psychische Erkrankungen entstehen und warum - zweitens - Therapien nutzen.

Roth und Stüber gehen dazu sehr ausführlich auf die Wirkungen der verschiedenen "Neurotransmitter" wie Dopamin, Serotonin, Vasopressin oder Oxytocin ein und entwickeln aus deren Zusammenspiel ein Modell von "sechs psychoneuronalen Grundsystemen", die das seelische Leben bestimmen.

Wie ein Mensch reagiert und was er fühlt, hängt vielfach daran, welche der Neurotransmitter auf welche Weise aufgenommen werden können, und wie sich die neuronalen Rezeptoren ausbilden. Das hat sehr viel mit der genetischen Grundausstattung zu tun, aber auch viel mit Umwelteinflüssen wie frühen Bindungserfahrungen oder Traumatisierungen, die ihre Spuren im Hirn hinterlassen. Sie können sogar epigenetisch auf die nächste Generation übergehen.

Psychische Erkrankungen greifbar machen

Roth und Strüber verstehen psychische Erkrankungen als Fehlfunktionen im limbischen System und beschreiben, wie sich einige der bekannten Krankheitsbilder hirnphysiologisch niederschlagen. Das klingt in mancher Hinsicht wie eine hochmoderne Form der antiken Säftelehre. Depressionen etwa gehen mit einer verringerten Oxytocin-Konzentration im Blut einher, bei posttraumatischen Belastungsstörungen ist der Cortisol-Spiegel herabgesetzt, Cortisol-Unterfunktion findet sich auch bei psychopathischen Personen.

Das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten ist hoch komplex. Generell aber machen diese Erklärungen begreiflich, warum etwa frühkindliche Traumatisierung so nachhaltig zerstörend wirkt oder warum man aus psychopathischen Gewalttätern keine einfühlsamen Zeitgenossen machen kann.

Psychotherapie vollbringt keine Wunder

Wenn aber alles an der Chemie hängt, kann dann die Psychotherapie überhaupt etwas nutzen? Sie kann, meinen Roth und Strüber, und sie erklären auch, warum fast alle Therapieformen, unabhängig von ihrer Methode, zunächst einmal Anfangserfolge verbuchen. Es liegt am Oxytocin:

Wunder vollbringen können Therapien Roth und Strüber zufolge nicht. Sie wirkten aber wohltuend aufgrund der therapeutischen Beziehung und in zweiter Linie sei auch ein begrenztes Umlernen fehlgeleiteter Gewohnheiten möglich.

Widersprüchliche Eindrücke

Die Lektüre des Buches hinterlässt zwei widersprüchliche Eindrücke: Einerseits haben die neurobiologischen Erklärungen - auch wenn man ihnen als Laie nur begrenzt folgen kann - eine generell hohe Plausibilität. Wo, wenn nicht im Hirn, wollen wir unser Fühlen verorten? Andererseits wirken die Erkenntnisse der Hirnforschung oft wie aufgeblasene Banalitäten. Dass der Depressive depressiv ist, wussten wir auch vorher schon. Erklärt die Neurobiologie wirklich etwas Neues? Sie ist ein Erklärungsmodell unter anderen. Selbst wenn wir wissen, wie das Gehirn die Seele macht, sollten wir nicht denken, wir hätten damit die Seele auch schon verstanden.

Service

Gerhard Roth und Nicole Strüber, "Wie das Gehirn die Seele macht", Klett-Cotta