Politisches Theatertreffen

Das Berliner Theatertreffen ist das bedeutendste deutschsprachige Theaterfest, bei dem die zehn "bemerkenswertesten" Inszenierungen einer Saison gezeigt werden. Die 52. Ausgabe ist so jung, so weiblich und so experimentell wie nie zuvor. Eine Übersicht über die ausgewählten Inszenierungen.

Kulturjournal, 5.5.2015

Zum Auftakt geht es mit Elfriede Jelineks Stück "Die Schutzbefohlenen" um das Schicksal von Flüchtlingen und das nur mäßige Interesse satter Wohlstandsbürger an dem Elend unmittelbar vor den Toren Europas. Zum Abschluss zeigt das Theatertreffen eine Inszenierung von Bertolt Brechts "Baal", die Regisseur Frank Castorf auf den Kriegsschauplatz Vietnam verlegt: Eine rücksichtslose Materialschlacht der Ideen und Bilder, sagt der Autor und Theatertreffen-Juror Till Briegleb: "Wir sind gewohnt, dass Baal ein schwitzender, rücksichtsloser, geiler Wüstling ist, der gegen jede Norm verstößt. Frank Castorf hingegen zeigt, dass in dem Moment, in dem man Baal in einen brutalen Kontext setzt, wie den Vietnam-Krieg, dieses Verhalten zur Norm wird."

Die Inszenierung aus dem Münchner Residenztheater wird in Berlin zum allerletzten Mal gezeigt, weil die Brecht-Erben - wegen zu großer Abweichungen vom Brechtschen Original - gegen weitere Aufführungen gerichtlich vorgegangen sind. Entsprechend groß ist das Publikumsinteresse, die Karten waren innerhalb von Minuten ausverkauft.

Wiener Inszenierungen

Ähnlich groß war auch das Griss um die Karten für die zwei Akademietheater-Inszenierungen, die es in die Auswahl der bemerkenswertesten Inszenierungen geschafft haben. Einmal "die unverheiratete" - das Stück des 36-jährigen Oberösterreichers Ewald Palmetshofer in dem Elisabeth Orth, Christiane von Poelnitz und Stefanie Reinsperger unter der Regie von Robert Borgmann drei Generationen von Frauen spielen, die sich an einem Verrat während er Nazizeit abarbeiten.

Und dann "Die lächerliche Finsternis" von Wolfram Lotz in der Regie von Dusan David Parizek. Auch dieses Stück handelt von Krieg und Tod. Bei der lauten und anarchischen Kultinszenierung aus Wien bleibt nicht so wie es ist: Auch der Bühnenboden wird zerstückelt.

Festival der Debütant/innen

Für die Leiterin des Theatertreffens Yvonne Büdenhölzer steht "Die lächerliche Finsternis" stellvertretend für einen weiteren Trend in diesem Jahr. Fünf von zehn der ausgewählten Regisseure sind zum ersten Mal zum Theatertreffen eingeladen: "Es ist ein Festival der Debütanten und Uraufführungen. Neu beim Theatertreffen sind die Regisseurin Yael Ronen und die Regisseure Thom Lutz, Ivan Panteleev, Dusan David Parizek und Christopher Rüping", so Büdenhölzer.

Der eben erwähnte Ivan Panteleev zeigt seine Interpretation von Becketts "Warten auf Godot" - großes Schauspielertheater mit Samuel Finzi und Wolfram Koch. Der 30-jährige Christopher Rüping ist der jüngste der Theatertreffen-Debütanten. Er hat den berühmten Film des Dogma-Regisseurs Thomas Vinterberg "Das Fest" fürs Theater adaptiert und entfernt sich dabei ziemlich weit von der filmischen Vorlage.

Yael Ronens "Common Ground"

Die israelische Regisseurin Yael Ronen ist mit ihrem Stück "Common Ground" für das Berliner Maxim Gorki Theater eingeladen. Darin erzählt sie von den Folgen des Balkankriegs - und zwar mit der Methode, mit der sie sich inzwischen über Berlin hinaus einen Namen gemacht hat: Sie nimmt die Biografien ihrer Schauspieler als Ausgangspunkt und entwickelt daraus ihre Stücke - diesmal sind es Kinder von Tätern und Opfern - Bosnier, Serben und Kroaten.

Der Titel "Common Ground" habe sehr viel mit ihrer persönlichen Erfahrung zu tun, betont Yael Ronen: "Berlin war der einzige Ort wo für mich Gemeinsamkeit entstanden ist, wo ich als Israelin Menschen begegnen konnte, über die ich seit meiner Kindheit gehört hatte, dass sie meine Feinde sind. Zum Beispiel auch Palästinenser, die ja in Israel nur 20 Minuten von mir entfernt leben - aber ich musste erst nach Berlin kommen, um direkt mit ihnen reden zu können."

Susanne Kennedys Fassbinder-Interpretation

Neben Yael Ronen sind noch zwei weitere Regisseurinnen eingeladen - auch das ist eine Premiere: Susanne Kennedy hat für die Münchner Kammerspiele den Fassbinder-Film "Warum läuft Herr R. Amok" adaptiert - mit ihrer Technik der völligen Entfremdung. Ihre Figuren tragen Latex-Masken. Der Text kommt vom Band.

Die dritte Regisseurin Karin Henkel hat schon Theatertreffen-Erfahrung. Diesmal ist sie mit ihrer Inszenierung von Ibsens "John Gabriel Borkman" für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg eingeladen - es ist der einzige Klassiker der heuer gezeigt wird.

Thom Lutz' Hörstück im Treppenhaus

Das absolute Gegenteil davon ist das Debüt des Schweizer Regisseurs Thom Lutz. Er hat ein sehr ungewöhnliches Buch mit dem Titel "Atlas der abgelegenen Inseln" als Vorlage verwendet und daraus ein - wie er sagt - ein mehrstimmiges Hörstück auf drei Stockwerken für das Schauspiel Hannover entwickelt. Gespielt wird in einem Treppenhaus.

Damit die Verpflanzung gelingt, haben die Organisatoren des Theatertreffens 50 Treppenhäuser in ganz Berlin gesichtet - für ein Stück ganz ohne Handlung und ohne Figuren. Auch hier werden die Grenzen von Spiel und Theater ausgelotet. Das 52. Berliner Theatertreffen ist so jung, so weiblich und so experimentell wie nie zuvor.

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