Handke-Gastspiel des Thalia Theaters in Wien

Das estnische Regieduo Tiit Ojasoo und Ene Liis Semper hat Peter Handkes Schauspiel "Die Stunde da wir nichts voneinander wußten" neu inszeniert - für das Thalia Theater Hamburg. Ab morgen ist die Produktion bei den Wiener Festwochen zu Gast.

Morgenjournal, 20.5.2015

Ein sprachloser Bilderbogen in Minisequenzen, der von 20 Schauspielern, 13 asiatischen Tänzern und 20 Sängern auf die Bühne gebracht wird - eine Extrempantomime des estnischen Regieduos, das bei den Festwochen bereits mit dem Stück "Heiße estnische Männer" oder "Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt" große Erfolge gefeiert hat.

Sprachlosigkeit aller

Das ist Schauspiel in seiner pursten Form: da wird getanzt, gekeucht, gelacht, geschrien. Nur Worte gibt es keine. Die Figuren, die da aneinander vorbeirennen, sich anrempeln oder herumstehen, sind Büroangestellte, Müllfahrer, Postboten, Jogger, japanische Touristen, ein Bettler, ein junges Paar, eine schöne Frau oder eine Obdachlose mit ihrem Einkaufswagen. Es sind Figuren aus verschiedenen Kulturen, mit unterschiedlichen Hautfarben und Religionen. Handke lässt Abraham mit seinem Sohn Isaak auftreten, den greisen Moses mit den zehn Geboten, Juden an der Klagemauer oder schwarz verhüllte muslimische Frauen.

Der Zuschauer kreiert

Um zu verstehen, was die Figuren darstellen, was sie bewegt und welche Geschichten sie miteinander verhandeln, müssen die Zuschauer deren Mimik und Gestik interpretieren. Das Stück findet in ihren Köpfen statt. Das ist es auch, was Tiit Ojasoo an der Sprachlosigkeit des Stückes so fasziniert: Während ein Text gewöhnlich alles definiert, lassen die Bilder alles offen. Die auf der Bühne geschaffenen Bilder geben nicht mehr als einen Impuls. Was wirklich passiert, passiert in den Herzen der Zuschauer.

Mit Handkes Erlaubnis

Für ihre Neufassung des Stückes, 23 Jahre nachdem Handke es geschrieben hat, haben sich die Regisseur Ojasoo und Semper bei Peter Handke die Erlaubnis geholt, das Stück an die heutige Zeit anzupassen: Sie haben Szenen eingefügt, die von Flüchtlingen erzählen, vom Islam und dem Erstarken Chinas, von der Überalterung der westlichen Gesellschaft oder der Krise des Christentums.

Mal traurig, mal fröhlich sind diese Szenen, die in rasender Geschwindigkeit gewechselt werden: Hinter der Bühne warten rund zwölf Ankleider und Maskenbildner, die den Darstellern beim fliegenden Rollenwechsel helfen. "So ist das Leben eben: nicht immer geschmackvoll aber prallvoll", schrieb ein Kritiker nach der Premiere in Hamburg. Die Österreich-Premiere ist morgen im Theater an der Wien.

Service

Wiener Festwochen - Die Stunde da wir nichts voneinander wußten
Spiegel - Handke-Premiere am Thalia: Das Lied vom Leben