Hierarchie im Lift

"Randnotizen" von Alois Schörghuber

Lifte sind Biotope „menschlicher Abgründigkeit“, besonders interessante Studienobjekte sind Aufzüge in U-Bahnstationen. Darf man hier die Frage nach einer Hierarchie stellen?

Wer zum Beispiel ist berechtigt als erste oder erster den Lift zu betreten? Gibt es im Lift selbst eine Art Körperpark Ordnung? Die ersten schlichten sich im hinteren Bereich, die Nachfolgenden usw. und so weiter? Eines ist sicher, den Menschen ist das ziemlich - ich wähle an dieser Stelle die Worte eines sich an allen Wartenden vorbeidrängenden Renitenzlers - „scheißegal“.

Ähnliches ist vermutlich schon vielen Hörerinnen und Hörern passiert. Und, wie haben sie regiert?
Ich weiß bis heute nicht, wie ich mich verhalten soll, um nachher ein Gefühl zu haben, es gut gemacht zu haben. Den Anspruch, es richtig gemacht zu haben, habe ich längst aufgegeben.

Pole Position

Vor kurzem hatte ich wieder einmal ein prägendes Erlebnis. Sieben Personen warteten auf den Lift zur U3-Station „Zieglergasse“ in Wien. Ich hatte als Erstgekommener die Pole-Position, neben mir ein Mann, der Gelassenheit ausstrahlte, dann kamen eine äußerlich nobel erscheinende ca. Fünfundsechzigjährige mit ihrem ca. 8-jährigen Enkel und dann eine Gruppe von drei Frauen, angesichts ihres hörbaren Akzentes mit migrantischem Hintergrund. Ich hatte es eilig und war in diesem Fall auf Formel 1 Modus programmiert. Als der Lift kam startete ich mit Top-Speed und besetzte den Platz rechts hinten, gegenüber des Tastaturpaneels. Dann passierte die erste Unregelmäßigkeit, der Gelassene übte sich im „Wiener Charme“ und ließ der vermeintlichen Oma-Dame mit ihrem Enkel den Vortritt, eine fatale Entscheidung.

Entropie

Es entstand ein klassischer Zustand von „Entropie“, der Physiker Ludwig Boltzmann prägte diesen Begriff einer molekularen Unordnung, vereinfacht ausgedrückt. Die Dame drängte in den Lift und platzierte sich mit ihrem Enkel direkt beim Eingang auf der linken Seite, der Gelassene, ähnlich körperfüllig wie ich parkte auf der rechten Seite. Die drei Frauen quetschten sich im verbliebenen schmalen Raum in den Aufzug. Ganz hinten neben mir verblieb ein Vakuum, passend für einen ausgewachsenen Sumoringer. Zum Verständnis, die Temperatur betrug an diesem Tag 37 Grad. Schwitzanfall-Warnung in der Kategorie von Saunabesuchen. Mit dem Unterschied: dort ist er erwünscht.

Geistige Inkontinenz

Kaum schlossen sich die Türen, bekam der Entropie-Zustand Dimensionen der sozialen Unordnung. Die vermeintlich feine Oma-Dame erlitt einen Anfall geistiger Inkontinenz.

"Gehen sie doch nach hinten! Sie sehen doch, dass sie hier im Weg stehen!"

...baffte die Damenhafte sehr unfein eine der drei Frauen an, die sich in der Mitte des Liftes aufgefädelt hatten.

"Warum gehen sie nicht nach hinten, sie sind vor mir Eingestiegen."

..konterte diese mit Recht.

"Ich geh doch mit dem Kind nicht nach hinten!"

...plärrte die von fein blitzartig zu unfein Mutierte zurück.

"des is die Hitz, des is eindeutig die Hitz."

...meldete sich der Gelassene mit einem brachial alltags-philosophischen Erklärungsversuch zu Wort. Vergeblich.

"was wollen sie überhaupt, warum regen sie sich auf?"

..insistierte die junge Frau in korrekter Sprache, aber eben mit Akzent.

"gehen sie doch dorthin zurück, wo sie hergekommen sind."

...wechselte die feine Dame von unfein in eindeutiger Absicht auf dreckig.

In der Folge entwickelte sich eine Beschimpfungs-Kakophonie mit hohem Peinlichkeits-Faktor.

"des is de Hitze, de Hitze is a Hund."

...resümierte der Gelassene.

Eingreifen oder nicht?

Ich schwieg zu diesem Peinlichkeitsszenario. Stelle mir aber nachträglich fundamentale Fragen. Hätte ich eingreifen sollen? Und wenn ja wie? Irgendwie erinnerte mich diese Lift-Szene an die derzeit überdurchschnittlich erhitzte Lage im Lande. Wo es auch nicht leicht ist, zwischen den verschiedenen Aufgeregtheitszuständen sachlich zu vermitteln und für alle Vorschläge zu machen, die ihre versteckten Abstellkammern der Einsicht erreichen.

Nachwort

Sollte der Physiker Ludwig Boltzmann mit hochgezogenen Augenbrauen und tadelndem Blick vom Himmel auf mich herabschauen, weil ich den Begriff Entropie so brutal pseudowissenschaftlich verwendet habe, er verzeihe mir.