Roman von Michail Ossorgin

Eine Straße in Moskau

"In einer fremden Stadt entlieh ich den Titel meines ersten großen Romans bei einer der bemerkenswertesten Straßen meiner Heimatstadt" - schrieb Michail Ossorgin, der 1922 auf Lenins Befehl hin die Sowjetunion verlassen musste. Sein 1928 in der Pariser Emigration erschienener Roman "Eine Straße in Moskau" war lange Zeit vergessen und liegt nun in einer neuen Übersetzung aus dem Russischen vor.

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Michail Ossorgin, "Eine Straße in Moskau", Roman, aus dem Russischen von Ursula Keller, Die Andere Bibliothek

1878 als Spross einer Adelsfamilie in Perm geboren, wurde Michail Ossorgin in der Zeit der revolutionären Unruhen des Jahres 1905 als Sozialrevolutionär verhaftet; er floh ins Ausland und kehrte erst mehr als ein Jahrzehnt später nach Russland zurück. Als Kritiker der Bolschewiki wurde Ossorgin zunächst verbannt, 1922 schließlich mit einer Gruppe Intellektueller auf dem so genannten Philosophenschiff außer Landes gebracht. Nach einer Zeit in Berlin ließ er sich in Paris nieder und starb als staatenloser Flüchtling 1942 im zentralfranzösischen Chabris.

Die kleine Straße Siwzew Wrashek ist ein Symbol für die Heimat der russischen Intelligenz. In ihr lebten zeitweilig Lev Tolstoj und Marina Zwetajewa, der bekannte russische Zoologe Michail Aleksandrowitsch Mensbir, ein Teil der Handlung von Pasternaks "Doktor Schiwago" spielt dort, und lebt auch der Ornithologe Iwan Aleksandrowitsch, der Held des Romans. Als der Roman im Frühjahr 1914 am Vorabend des Ersten Weltkriegs einsetzt, wird eine bürgerliche Welt gezeigt, wie man sie zu dieser Zeit auch in jeder anderen europäischen Großstadt finden kann: Eine Köchin, ein Dienstmädchen und ein Hausknecht sorgen für die Bewältigung des Alltags, auf Abendgesellschaften wird getanzt, man ereifert sich über Themen der Philosophie und Wissenschaft.

Nur sechs Jahre später, als der Roman im Frühjahr 1920 endet, sind die letzten Bücher der einst umfangreichen Bibliothek des Professors verkauft, und die Banja, das Badehaus im Hof, musste verheizt werden, weil es an Brennholz mangelt. Die Dienstboten haben nach der Revolution den Dienst quittiert, und sie werden auch gar nicht mehr gebraucht, denn der Professor und seine Enkelin bewohnen nur mehr zwei Zimmer, fremde Menschen sind in den restlichen Räumen einquartiert.

Michail Ossorgin schreibt den Roman in der Emigration in Paris und bewältigt damit die eigene Vergangenheit. Aber anders als etwa Stefan Zweig in der "Welt von gestern" geht es ihm nicht darum, die alte Welt zu dokumentieren, sondern das Erdbeben und die Trümmer, die es hinterlassen hat, mit all seinen physischen und psychischen Folgeerscheinungen zu erfassen.