Mai Jia: "Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong"

In China ist der Schriftsteller Mai Jia ein Star. Fünf Millionen Bücher hat er bisher verkauft. Jetzt gibt es ihn auch auf Deutsch zu entdecken. Dieser Tage erscheint der Roman "Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong", und die Kritik nennt Mai Jia bereits den chinesischen Dan Brown. Dieses Etikett wird dem Autor und seinem Werk aber überhaupt nicht gerecht, findet Wolfgang Popp.

Mittagsjournal, 29.8.2015

Seelenlandschaft der Spione

Ja, es geht um Spionage, um Kryptografen und das Knacken gefinkelter Codes - mit einem Thriller Marke Dan Brown hat Mai Jias 2002 erschienener Debütroman "Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong" aber rein gar nichts zu tun. Statt das Geschehen schweißtreibend und blutig voranzutreiben, blickt Mai Jia nämlich lieber in die dunkle Seelenlandschaft seiner Spione: "Mit dem Begriff Spionage ist es schwierig, weil einem da sofort James Bond und "Mission: Impossible" einfallen, also kommerzielle Filme, die voll sind mit Sex und Gewalt. In meinen Büchern geht es doch etwas anders zu, weil meine Figuren keine Pistolen, ja nicht einmal ein Messer in der Hand halten."

Held im Abseits

Der Held von Mai Jias Roman ist eine skurrile Erscheinung. In der Kindheit wird er wegen seines großen Kopfs ständig gehänselt und aufgezogen. Bald jedoch entdeckt man seine mathematische Begabung und richtet ein Forschungsinstitut für künstliche Intelligenz für ihn ein, wo er ungestört vor sich hin arbeiten kann. "Figuren, wie sie in meinen Romanen vorkommen, hat es in der chinesischen Literatur noch kaum gegeben", erklärt Mai Jia. "Es handelt sich um Menschen, die nicht der Norm entsprechen. Sie leben im Abseits und werden von ihrer Umwelt nicht wahrgenommen. Es sind Menschen, von deren Leben wir eigentlich keine Ahnung haben."

Unterstützung gegen den Westen

Wir schreiben das Jahr 1956, die chinesische Volksrepublik unter Mao Zedong ist noch keine zehn Jahre alt und sucht allerorts Unterstützung gegen den imperialistischen Westen. So wird das junge Genie von der Spionageabteilung der chinesischen Volksbefreiungsarmee zwangsrekrutiert und zur Entschlüsselung wichtiger Geheimcodes abgestellt. Der Einzelgänger verbringt daraufhin seine Zeit mit Lesen, Schachspielen und Traumdeuten, seine Vorgesetzten fragen sich schon, ob es sich bei dem Genie nicht eher um einen Irren handelt, da knackt er plötzlich den wichtigsten Code.

"Meine Romane drehen sich alle um ein Thema: Es geht um die Lösung eines Rätsels, um die Schwammigkeit von Wahrheit und die schmale Grenze, die zwischen Richtig und Falsch verläuft", so Mai Jia: "Ich versuche jetzt durch mein Schreiben, den Blick auf Phänomene zu werfen, die durch unsere Ignoranz, unseren Egoismus, unsere Feigheit und unsere Angst verdeckt sind. Unser Wissen über die menschliche Existenz ist immer noch äußerst bruchstückhaft. Das meiste ist noch immer unbekannt."

Begonnen als Propagandatexter

Mai Jia ist Jahrgang 1964, verbrachte seine Kindheit also während der Kulturrevolution, da die Familie politisch vorbelastet war, sicher eine traumatische Erfahrung. Um sich zu rehabilitieren, trat Mai Jia in die Volksbefreiungsarmee ein. 17 Jahre blieb er dort und entdeckte gerade beim Verfassen von Propagandatexten sein schriftstellerisches Talent. Seine Erfahrungen lässt er jetzt, wenn auch vorsichtig, in seine Romane einfließen: "In keinem Land der Welt kann man ohne jegliche Einschränkungen schreiben, was man will", sagt der Autor. "Meine Bücher drehen sich oft um das Leben in der chinesischen Volksbefreiungsarmee und andere sehr sensible Themen, deshalb sind die Einschränkungen, die ich erlebe schwerwiegender als bei den meisten anderen Schriftstellern. Aber ich mag diese Herausforderung, denn sie hilft mir, mich beim Schreiben weiterzuentwickeln und sie formt mich."

Mit Mai Jia und seinem Roman "Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong" ist eine neue Stimme unter Chinas Gegenwartsautoren zu entdecken. Neu, weil er China nicht in buntschillernden, exotischen Farben zeichnet, neu auch, weil er keine offensichtliche Aufarbeitung der Gräuel der Mao-Zeit betreibt, und zum dritten Mal neu, weil er auch zur schwarzhumorigen Schelmenliteratur der letzten Jahrzehnte einen gehörigen Abstand hält. Ihn interessieren einzig seine dunklen Spione, und denen folgt man, auch ohne Walther PPK in der Hand und Bondgirl auf dem Schoß, mit größter Spannung.

Service

Mai Jia, "Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong", aus dem Chinesischen von Karin Betz, DVA

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