Mathias Enard erhält Prix Goncourt

Der wichtigste französische Literaturpreis geht in diesem Jahr an Mathias Enard für seinen jüngsten Roman "Boussole" (Kompass). Ein Werk, das sich zwischen heute und den vergangenen Jahrhunderten bewegt. Die Hauptfigur ist ein vom Nahen und Mittleren Osten faszinierter Wiener Musikwissenschaftler.

Mathias Enard

AFP PHOTO / THOMAS SAMSON

Kulturjournal, 3.11.2015

"Balzac des 21. Jahrhunderts"

Im üblichen Gedränge vor und im Pariser Nobelrestaurant Drouant wurde verkündet, dass der Preisträger gleich im ersten Wahlgang sechs von zehn Stimmen auf sich vereinen konnte. Mathias Enard, den einige Literaturkritiker jüngst gar schon als den "Balzac des 21. Jahrhunderts" gefeiert haben: Eine Art sprachgewaltiges Universalgenie, der ein Jahrzehnt lang im Libanon und in anderen Ländern des Mittleren Ostens gelebt hat, arabisch und persisch und noch fünf weitere Sprachen spricht, ab 2000 ein Jahrzehnt lang in Barcelona gelebt hatte, jüngst dann in Berlin, wo ein Teil des Romans entstanden ist. Enard, der schon 2008 mit dem auch auf Deutsch vorliegende Roman "Zone" auf sich aufmerksam gemacht hatte: ein einziger Satz über 500 Seiten, der von Kriegen und Schrecken auf dem Balkan und im Nahen Osten handelt.

Enard sagte heute über sein Werk "Boussole": "Es ist ein Buch gegen jede Form von Obskurantismus; das Wissen hat eine wichtige Funktion, ein Wissen, das man teilt und die Kenntnis des anderen, all das hilft, gegen Obskurantismus und Gewalt anzugehen. Diese Gewalt, die kein Ende nimmt im Mittleren Osten, der regelrecht verflucht scheint, eines der weltweiten Zentren der Gewalt ist."

Defilee der jahrhundertealten Geschichte

Der Rahmen des Romans: In einer schlaflosen Nacht im 9. Wiener Bezirk hängt der - im Alltag nicht sonderlich glückliche, von einer nicht näher benannten Krankheit bedrohte und reichlich einsame - Musikwissenschaftler Franz Ritter vor Bücherwänden und seiner exotischen Instrumentensammlung Erinnerungen nach: Er lässt Begegnungen, Lektüren und Reisen - etwa nach Istanbul, Aleppo oder Palmyra - wieder aufleben.

Im Hintergrund stets präsent ist die Geschichte einer nicht zustande gekommenen Liebesbeziehung mit Sarah, einer französischen Orientwissenschaftlerin. Es ist eine Art Feuerwerk von Assoziationen durch Zeiträume und Regionen, das Mathias Enard seinen Lesern bietet: in den Zeilen defiliert mithilfe einer ausgefeilten Montagetechnik die jahrhundertealte Geschichte des Verhältnisses zwischen Okzident und Orient; und der Begeisterung der westlichen Welt für diesen Orient, der im Westen Spuren in allen Kunstgattungen hinterlassen hat.

"Bei Enard träumt man den Orient"

Die Literaturkritikerin Marie Calmant über Enard und seinen Roman: "Bei ihm träumt man den Orient. Er bietet uns etwas, das radikal anders ist als das Bild dieser Region, das die Aktualität uns seit vier Jahren liefert. Enard ist eine Art Vielfraß, ein Unhold, man würde sagen Gargantua, eine Person von Rabelais. Er ist ein Romanautor, der für sich steht, jenseits von jeder Norm, und das ist auch Teil des Charmes seines Buchs - Konventionen sind ihm völlig egal."

"Boussole" ist ein äußerst komplexer, von einem enormen Wissen gespeister Roman, der allerdings viele der unzähligen Geschichten, Biografien und Szenen nur anreißt und selten wirklich leben lässt. Er hat auch gewisse Schwierigkeiten, wenn es darum geht, die blutige und mörderische Aktualität im Mittleren Osten in die Handlung einfließen zu lassen.

Service

Mathias Enard, "Boussole", Actes Sud
Die deutsche Fassung erscheint im August bei Hanser.

Actes Sud - Mathias Enard