Zum 90er von Friedrich Cerha

Die Frische des Einfalls

Ausgeprägt das Bedürfnis nach Freiheit, begleitet von beobachtend prüfender Neugier. Das Leben kein offen präsentiertes Buch. Geistige Einbahn verpönt. Als Kind riss er aus zu den "Zigeunern", verführt von deren Musik. Geigenklänge.

Er wurde Violinist, später prägend ausgebildet von Vasa Prihoda. Noch ein andermal riss er aus, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges reichte ihm der Wehrdienst im Tausendjährigen Reich. Die Alpen bewahrten ihn vor Zugriffen. Ein paar Monate Bergführer. Abgestiegen ins heimatliche Wiener Tiefland, begann er seine musikalischen und wissenschaftlichen Studien.

Eine völlig neue Musik

Der Herr Doktor, der Barockmusik spielt und ediert, komponieren und dirigieren zu beherrschen erlernt, die Darmstädter Ferienkurse anregend wie kritisch erlebt, in Wien mit Schwertsik das Ensemble die reihe gründet und dann eine völlig neue Musik schreibt, vegetativ sich verändernde Klangflächenstrukturen. Das Gesamtschaffen (an die 140 Werke, circa 60 davon Kammermusik): Vielfalt des Auszusagenden in einer homogenen Welt der musikalischen Artikulation. Unverkennbare Harmoniegebilde. Sie wurzeln - das ist hypothetisch - im Donauraum, rudimentär zurückreichend in Jugendtage nahe der slowakischen Grenze. Farbspuren slawischer Klangcharakteristika, verschmolzen mit dem Komplex der eigenen Klangwelt. Sie ist weltoffen, enthoben dem engen Lokalkolorit, dennoch zutiefst österreichischen Ursprungs.

Mit zwei Worten: Friedrich Cerha. Dass er nun neunzig geworden ist, darf als Geschenk empfunden werden, da seine Inspiration unter keiner altersbedingten Abnützung leidet. In jüngster Zeit bevorzugt er kleinere Formen, weil darin die Frische des Einfalls unmittelbarer wirkt. Resultat einer Selbstbeobachtung, nicht Scheu vor großer Form. Lassen wir hier beiseite, was ihm Weltgeltung bescherte: den "Spiegel"-Zyklus, Solitär in der Musik des 20. Jahrhunderts; innerhalb seiner Bühnenwerke, eingeleitet vom experimentellen "Netzwerk", zumindest "Baal" (nach Bertolt Brecht); die Fertigstellung des dritten Aktes von Alban Bergs "Lulu" oder etliche Orchesterkompositionen wie die "Langegger Nachtmusiken" (deren erste ein Beispiel seiner Naturverbundenheit ist).

Anreiz und Kriterium von Qualität

Stellen wir besser Vernachlässigtes in den Vordergrund: Stücke, die seine mentale Nähe zum Bildhauer Karl Prantl dokumentieren ("Monumentum für Karl Prantl"); die Requiem-Serie "Requiem der Versöhnung" im Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges; "für Hollensteiner", Text von Thomas Bernhard; "für Rikke", aus "Der Rattenfänger" nach Zuckmayer; seinen Umgang mit Erik Satie; seinen Zugang zu Edgar Varèse usw. Musikalischer Reichtum? Anreiz und Kriterium von Qualität.

Die Weite seines kompositorischen Kosmos andeutend, ein paar Diagonalen: Vom intim reduktionistischen "Buch von der Minne" über die subtil bissig humoristische "Keintate" zum nihilistischen A-cappella-Werk "Nichtigkeit ist alles". Vom Rekurs auf Serielles, "Relazioni fragili", über die Aggregatzustände der "Mouvements" zu den "Acht Sätzen nach Hölderlin-Fragmenten" (Streichsextett). Vom "Curriculum" (da wollte er Tempo) über das kritische "bevor es zu spät ist" (Tenor und Orchester aus "Holzfällen" von Bernhard) bis zu den behutsam disponierten Präludien und Inventionen für Orgel solo … Cerha wollte und will immer eine erlebnismäßig fassbare Musik schreiben. Das ist ihm gelungen.

Text: Lothar Knessl