Die vergessene Geschichte von Roms Cinecitta

Von 1943 bis 1950 haben in der römischen Filmstadt Cinecitta staatenlose Flüchtlinge gelebt. Mehrere tausend waren es, die meisten davon Juden, die nach Einführung der Rassengesetze während der Regierungszeit von Benito Mussolini in italienischen Lagern interniert wurden. Dass die berühmte Filmstadt ein Flüchtlingslager war, ist nicht nur hierzulande, sondern auch in Italien so gut wie unbekannt.

Kulturjournal, 2.2.2016

"Ein geschichtswissenschaftliches Loch"

"Ich bin ein Flüchtlingskind aus der Region Venetien. Meine Familie ist im Krieg gestorben. Man hat mich hier in Rom in einem Lager untergebracht. Hier geht es mir gut", sagt ein achtjähriges Mädchen in einem Werbefilm des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR). Sie lebte drei Jahre lang in einem Camp für so genannte "displaced persons", für Menschen, die im Laufe des Zweiten Weltkriegs ihre Staatsangehörigkeit verloren hatten. In ganz Europa existierten nach dem Krieg zehntausende solcher Personen. Etwa 4.000 von ihnen, Juden aus ganz Europa, viele von ihnen Überlebende aus Konzentrationslagern, wurden nach 1944, nach der Befreiung Roms von deutscher Besatzung, im "Hollywood am Tiber" untergebracht. Das UNHCR kümmerte sich um sie.

Eine fast vergessene Geschichte, erklärt der Dokumentarfilmer Marco Bertozzi, der als erster, 2012, einen Film zur Geschichte der italienischen Filmstadt Cinecitta als Flüchtlingslager drehte: "Zu diesem Thema gibt es in Italien ein geschichtswissenschaftliches Loch: Fast niemand weiß, dass dort, wo Fellini und Pasolini arbeiteten, wo Liz Taylor und Leonardo di Caprio Rollen interpretierten, tausende von Flüchtlingen untergebracht waren. Fast hat man den Eindruck, dass diese Geschichte verdrängt wurde, nicht nur von der Filmgeschichte."

Fellinis bevorzugter Drehort

Die vielen jüdischen Staatenlosen hausten vor allem im "Studio Cinque", einem riesigen Hangar, der später zum bevorzugten Drehort von Federico Fellini wurde. Heute erinnert so gut wie nichts mehr daran, dass in diesem Hagar und auf dem Gebiet der Filmstadt fünf Jahre lang, bis 1950, tausende von Menschen auf engstem Raum zusammen lebten. Katja Tenenbaum lebte als Kind in diesem Flüchtlingscamp. Ihr Vater war als Arzt für die Juden im Camp verantwortlich: "Ich war ein kleines Mädchen, als wir in Cinecitta ankamen. Meine Eltern, nichtitalienische Juden, waren zuvor in einem kleinen Ort südlich von Rom untergebracht gewesen. Das faschistische Rassengesetz schrieb ja vor, dass solche Juden gefangen gesetzt werden sollten. Direkt nach der Befreiung Roms fragte das alliierte Oberkommando meinen Vater, ob er die medizinische Leitung des Camps für 'displaced persons' übernehmen würde."

Die Familie Tenenbaum wohnte direkt über dem noch heute existierenden Haupteingang in die Filmstadt. Auf der großen Terrasse spielte die kleine Katia Ball. Sie und ihre Familie lebten in dem Camp vergleichsweise paradiesisch. Die anderen Flüchtlinge mussten sich in den Studios zusammendrängeln.

Marco Bertozzis Dokumentarfilm

In Marco Bertozzis Dokufilm "Profughi a Cinecitta" (Flüchtlinge in Cinecitta), der bisher einzigen historischen Aufarbeitung dieser Geschichte, gemeinsam erarbeitet mit der US-amerikanischen Historikerin Noa Steimatzky, wird das ganze Elend der dort untergebrachten Menschen gezeigt. Bertozzis Dokumentation führte zum ersten Mal überhaupt Überlebende dieses Camps zusammen. Es war nicht leicht, Betroffene dazu zu bewegen, an diesen Ort, den letzten ihrer ganz persönlichen Odyssee während der Verfolgung durch das Hitler- und das "Duce"-Regime, zurückzukehren, und sich vor laufender Kamera zu erinnern. Vielen der weiblichen Insassen des Flüchtlingscamps sind die dortigen Lebensumstände noch heute peinlich.

Wer in Cinecitta untergebracht war, hatte nicht nur sein eigenes Dach über dem Kopf und seine Nationalität verloren, sondern wurde von den Römern auch noch den Schmutz gezogen, berichtet die ehemalige Bewohnerin des Camps Cinecitta Nora Mezzavilla: "Wir jungen Mädchen aus Cinecitta hatten den Ruf leichte Mädchen zu sein, weil wir in der Filmstadt fast promisk eng alle auf einem Haufen lebten. Es verletzte uns tief, dass uns ein skandalös schlechter Ruf vorauseilte."

In den fünf Jahren seines Bestehens wurde das römische Flüchtlingscamp in der Filmstadt auch von ehemaligen Nazis genutzt. "Mein Vater hatte auch die Aufgabe unter den Flüchtlingen ehemalige SS aufzuspüren, die, mit falscher Identität ausgestattet, dort unterzutauchen versuchten, um von Rom aus ins Ausland zu fliehen", erinnert sich Katia Tenenbaum. "Als Arzt, der die Flüchtlinge untersuchte, fielen ihm die berüchtigten SS-Tatoos auf und so konnte er diese Leute überführen."

Zwischen 1948 und 1950 leerte sich das Camp. Die meisten der jüdischen Flüchtlinge wanderten nach Israel oder in die USA aus. Dieses Cinecitta-Kapitel geriet in Vergessenheit. Eine Geschichte, die bis heute auf ihre komplette historische Aufarbeitung wartet.