Von Larry Siedentop

Die Erfindung des Individuums

Wenn es heißt, die westliche Welt sei "liberal" eingestellt, dann verstehen heute viele Menschen unter "Liberalismus" ein dekadentes Wertevakuum, in dem das "Anything goes" die Marschrichtung vorgibt. Wie ist es zu dieser Ansicht gekommen? Diese Frage ist der Ausgangspunkt von Larry Siedentops Buch "Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt".

Kontext, 29.04.2016

Um zu erfahren, wann der Mensch als Individuum, als denkendes und handelndes Einzelwesen in die Geschichte eintritt, muss man mit Larry Siedentop weit zurückgehen – nämlich in die römische Antike. Sie ist von einer starren und hierarchisch gegliederten Familienstruktur geprägt: Der "pater familias", der Vater und Herr der Familie ist das klare Oberhaupt, er steht den Mitgliedern und den Hausgöttern vor. Siedentop zeigt nun, dass diese feste Ordnung auch das gesamte gesellschaftliche und politische Leben der Römer formte.

Und das heißt auch: Die Hierarchie von freien Bürgern – Männern und ihnen rechtlich untergeordneten Frauen und Kindern – und von "Unfreien", den Sklaven, wurde als eine natürliche Ordnung angesehen. Für den Autor ist damit eines klar: In einer solch starren Gesellschaftsordnung zählt nicht das Individuum, ja, es kann sich in ihr gar nicht herausbilden, sondern es zählen Familie, Sippe, Stamm und Staat. Und liberal kann man eine solche Ordnung erst recht nicht nennen.

Larry Siedentop gibt mit seinem Buch "Die Erfindung des Individuums" sehr viele und exzellent beschriebene Denkanstöße, die zu einer Revision einer bestimmten Meinung einlädt. Nämlich, dass erst die Aufklärung den freien Menschen ins Visier genommen habe. Nach Siedentop haben die Frühkirche und die des Mittelalters das Individuum als Träger von Willen und Vernunft erfunden.

Service

Larry Siedentop, "Die Erfindung des Individuums", Klett-Cotta Verlag