Die Intelligenz des Unbewussten

Intuition

Das "Radiokolleg" dieser Woche ist neben einer Würdigung des Pop- Grandseigneurs Paul Simon und einer Spurensuche im niederösterreichischen Industrieviertel vor allem unserem Innersten, unserer Intuition, gewidmet.

Ampel mit roten und grünen Signalen

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Die Ampel schaltet auf Grün, doch der Fußgeher bleibt stehen. Zu seinem Vorteil, denn ein rechts abbiegender Lastwagen, der mit überhöhter Geschwindigkeit die Kurve nimmt, hätte ihn unweigerlich überfahren. Intuitiv bin ich stehen geblieben, wird er später berichten. Doch was hat seine Reaktion mit dem sogenannten "Bauchgefühl" zu tun?

Intuitive Entscheidungen kombinieren Gedächtnisleistungen mit einer aktuellen Wahrnehmung. Kognitionspsychologe Andreas Glöckner von der Fernuniversität Hagen spricht hier von Erfahrungswissen. Signale wie das hochtourige Motorengeräusch des Lastwagens, ein am Augenwinkel vorbeihuschender Schatten, vielleicht der scharfe Luftzug am Ohr, melden Gefahr. Der Fußgeher hält inne, und das rettet ihm das Leben.

Der Mensch gilt als rationales Wesen. Doch mehr als 50 Prozent seiner Entscheidungen trifft er intuitiv.

Der Psychologe Gerd Gigerenzer vom Max Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin spricht von der Intelligenz des Unbewussten. Denn das oft zitierte Bauchgefühl hilft, rasch und treffsicher sein Verhalten auf eine ungewohnte Situation abzustimmen. "Wir stehen vor einer Entscheidung und wissen ohne nachzudenken sofort, welches die richtige Vorgehensweise ist", erläutert Gerd Gigerenzer mit einem Beispiel: "Wir haben professionelle Handballspieler untersucht. Handballspieler müssen sich in der Zeitspanne eines Wimpernschlages für den richtigen Spielzug entscheiden. Und man kann zeigen, dass die Optionen, die erfahrenen Handballern einfallen, schlechter werden, je länger sie nachdenken." Der Grund dafür: das Unbewusste ordnet unsere Einfälle, je nachdem, wie erfolgreich sie in der Vergangenheit waren. Die guten Ideen kommen uns darum meistens zuerst.

Komplexe Situationen fordern vielfältige Bewältigungsstrategien. Intuition kann dabei helfen, schnell gute Lösungen zu finden. Denn sie schöpft aus dem reichen Reservoir bewusster und unbewusster Erfahrungen. Das produziert aber auch Missverständnisse. So entwickeln Richterinnen und Richter beim ersten Studium eines Falles oft ein intuitives Rechtsgefühl, berichtet der Psychologe Andreas Glöckner. Das basiert auf Erinnerungen an frühere Fälle. Die Wahrnehmung der aktuellen Fakten wird dadurch oft verzerrt.

Intuition wird aber auch zum Korrektiv. Denn aus psychologischer Sicht werden Entscheidungen grundsätzlich vom sogenannten Kohärenzeffekt beeinflusst. Fakten, die nicht ins Bild passen, werden stimmig gemacht, erklärt Andreas Glöckner. Gelebte und neue Erfahrungen werden solange gemischt, bis sie die beste Interpretation für den Betroffenen ergeben. Ein intuitives Unbehagen, das beim Entscheidungsprozess auftritt, die wahrgenommene Irritation beim Sichten der Fakten, sie weisen unbewusst auf Unstimmigkeiten hin. In seinen Schulungen rät Andreas Glöckner darum Wirtschaftstreibenden wie Juristen, dieses Gefühl nicht zu ignorieren, sondern zu überprüfen, woher es kommt.

Der israelisch-US amerikanische Psychologe Daniel Kahneman geht davon aus, dass intuitive Entscheidungen dem logischen Denken widersprechen.

"Leider zieht das intuitive Denken Schlüsse, lange bevor das bewusste Denken in Fahrt kommt." Dem so formulierten Gegensatz widersprechen jedoch aktuelle Forschungen. Sie weisen darauf hin, dass sich Intuition und Logik in Entscheidungsprozessen ergänzen.

Der Schweizer Psychologe C. G. Jung sah in der Intuition eine grundlegende menschliche Fähigkeit, Unbekanntes zu erforschen und Möglichkeiten zu erahnen. Der Erfahrungsreichtum des Unbewussten gewährt einen ganzheitlichen Blick auf eine Situation. Das Wissen um die eigenen Gefühle hilft, intuitive Impulse bei Entscheidungen mit einzubeziehen.

Intuition ist auch erlernbar. Empathie: das Einfühlungsvermögen ist die Voraussetzung dafür. Aus psychotherapeutischer Sicht sind positive Bindungserfahrungen dessen Grundlage. Studien haben gezeigt, dass das Gehirn einer Mutter auf Unlust-Äußerungen ihres Kindes intensiver reagiert als das Gehirn von Nicht - Müttern. Mütter reagieren auch intensiver auf die Reaktionen der eigenen Kinder als auf fremde. Die These, dass Hormone diese frühe Bindungserfahrung steuern, ließ sich jedoch nicht bestätigen. Denn auch Väter oder Adoptiveltern bauen zu ihren Kindern ein intuitives Beziehungssystem auf. Wenn Mütter jedoch eine beeinträchtigte Bindungserfahrung besitzen oder an einer Depression erkrankt sind, wird dieses System der intuitiven Ausrichtung nicht aktiviert.

Die Fähigkeit, in Beziehungen einzutauchen und die Beziehungssignale des Gegenübers wahrzunehmen, gestaltet den Berufsalltag von Psychotherapeuten. Denn nicht nur das Erzählte und die Körpersprache eines Patienten berichten von dessen Konflikten. Auch das intuitive Erfassen einer Person bietet wichtige Hinweise. Welche Gefühle löst der andere im Therapeuten aus? Welche Assoziationen stellen sich ein? Verdrängtes und Abgewehrtes meldet sich so zu Wort und können thematisiert werden. Psychoanalytiker nennen dieses Phänomen die sogenannte Gegenübertragung. Erfolgreiche therapeutische Arbeit braucht aber einen reichen Erfahrungsschatz, sagt die Psychoanalytikerin Melitta Fischer - Kern von der Medizinischen Universität Wien. Dieses Erfahrungswissen befähigt den Behandler, Einschätzungen zu treffen und die richtigen Fragen zu stellen.

Text: Margarethe Engelhardt-Krajanek