Zum 70. Geburtstag von Elfriede Jelinek

Mythen, Masken, Sprachschablonen

Früher begegnete man ihr bisweilen in den Straßen von Wien. Sie saß im Café Bräunerhof oder vertiefte sich im nicht minder traditionsreichen Café Korb in eine Zeitung. Das Haar trug sie stets zu einer kunstvollen Tolle arrangiert. Die Adidas-Jacke kombinierte sie zu sportlichen Sneakers. Elfriede Jelinek war eine Erscheinung. Wer sie einmal gesehen hatte, erinnerte sich an sie.

Elfriede Jelinek

Elfriede Jelinek auf einem Archivbild aus dem Sommer 2009

APA/ROLAND SCHLAGER

Es mag wie ein Sakrileg erscheinen, einen Text über eine der größten Sprachkünstlerinnen unserer Zeit mit Betrachtungen zu ihrem Äußeren einzuleiten. Doch die Mode, die den weiblichen Körper verhüllt, ihm eine Bedeutung verleiht, ist ein Motiv, das Elfriede Jelinek in ihren Texten variantenreich durchdekliniert. "Mit all meiner kostbaren Kleidung, diesen Haufen und Haufen von Stoff will ich vortäuschen, ich hätte darunter gar keinen Körper", heißt es im Theatermonolog Jackie (2003), in dem die tote Jacqueline Kennedy Onassis aus dem Jenseits spricht. Eine Mischung aus Modeschau und Totentanz, die sich nicht zuletzt mit dem weiblichen Körper als Einschreibfläche patriarchalischer Macht auseinandersetzt. Die Frau, deren Körper vom Blick des Mannes abgetastet wird, die Frau, die auf ihre Körperlichkeit zurückgeworfen und reduziert wird, das Ringen der Frau um den Subjektstatus - in der Sprache, im Begehren - nimmt im Oeuvre Jelineks eine zentrale Rolle ein.

Nobelpreis und Rückzug

2004 wird Elfriede Jelinek mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Sie ist die erste Österreicherin, der diese höchste literarische Würdigung zuteilwird. Zur Verleihung nach Stockholm reist sie nicht. Stattdessen sendet sie eine Videobotschaft und trägt den Text Im Abseits vor, eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Schriftstellerin in der Gesellschaft. Sie, so Jelinek, beobachte die Wirklichkeit und stehe selbst stets außerhalb derselben. Ein geradezu programmatischer Text, mit dem Elfriede Jelinek ihren Rückzug ankündigt. Denn von nun an entzieht sich die Autorin der Öffentlichkeit und bringt ihren Körper gewissermaßen zum Verschwinden. Als Frau, aber auch als mediale Figur.

Digitale Einsiedlerin

Als Autorin mischt sich Elfriede Jelinek weiter ein und schreibt unter anderem ein viel beachtetes Stück über die Flüchtlingstragödie (Die Schutzbefohlenen). Doch öffentliche Auftritte meidet Jelinek, Interviews werden höchstens per E-Mail gegeben. Bilder, die zeigen, wie Elfriede Jelinek als 70-Jährige aussieht, existieren kaum. Auch aus dem Literaturbetrieb hat sie sich zurückgezogen. Die einstmals äußerst präsente Autorin wird zu einer körperlosen Stimme, die auf ihrer Homepage direkt mit ihren Lesern und Leserinnen in Dialog tritt. Jelineks jüngster Roman, "Neid", (2007/08) erscheint nur noch online.

Davor: Gnadenlose Öffentlichkeit

Bis in die frühen Nullerjahre gehört Elfriede Jelinek zu einem erlesenen Kreis engagierter Autorinnen, die sich regelmäßig zu Wort melden. Kaum eine Demonstration gegen den Rechtsruck oder für eine menschlichere Asylpolitik, bei der Jelinek nicht dabei, kaum ein tagespolitisch brisantes Thema, zu dem sie sich nicht medial äußert. Jelineks kompromisslose gesellschaftspolitische Haltung macht sie zur Zielscheibe von Spott und Hohn. Sie wird als Nestbeschmutzerin diffamiert. 1995 kulminieren die Anfeindungen in einem berüchtigten Plakat: "Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk – oder Kunst und Kultur?", affichiert damals die Wiener FPÖ. Denn spätestens seit den 1980er Jahren hält Jelinek der österreichischen Gesellschaft den Spiegel oder vielmehr den Zerrspiegel vor und richtet ihren Blick wie Thomas Bernhard auf die verdrängte österreichische NS-Vergangenheit. Die österreichische Geschichte gerät unter Jelineks Blick zum Horrortrip, in dem sich Untote und Zombies tummeln (Die Kinder der Toten). Sie sind das Sinnbild für eine Vergangenheit, "die nie ganz tot ist und aus der immer die Hand aus dem Grabe wächst".

Gesellschaftskritik in der Sprache selbst

In der Tradition der sprachkritisch-experimentellen Literatur entfaltet Jelinek ihre Gesellschaftskritik in der Sprache selbst. Ihre Figuren (sei es am Theater oder in der Prosa) sind holzschnittartig gezeichnete Typen. Sie werden nicht psychologisch ausgeleuchtet, sondern sind vielmehr körperliche Hülle von Sprachmasken und Sprachschablonen. Jelinek schreibt gegen eine Sprache an, die von Ideologemen und Mythen, diesen "sprechenden Kadavern", ver- und überformt ist und bringt sie von innen zum Platzen. Anleihen für ihre virtuosen Textpartituren nimmt Jelinek, die in ihrer Jugend Orgel studiert hat, bei der kontrapunktischen Komposition. In ihren Texten tritt Stimme gegen Stimme an, Diskursfläche gegen Diskursfläche. Über die Kunstfertigkeit von Elfriede Jelineks Literatur sind sich Kritikerinnen einig. Doch ihre Texte verstören. Elfriede Jelinek ist eine Autorin, die nicht in lichten Farben malt, ihre virtuos komponierten Satztableaus sind oft getragen vom Furor einer Außenseiterin, die über das So-Sein der Welt verzweifelt. Literatur, die zur bildungsbürgerlichen Erbauung taugt, ist aus einem anderen Material gestrickt. Bei all dem Ingrimm wird allerdings oft übersehen, dass in Jelineks geliebten Kalauern und Sprachspielen immer wieder pointierter Wortwitz aufblitzt, der die düstere Grundierung vielleicht nicht aufhebt, aber zumindest aufhellt.