"Sieranevada": Cristi Puius Familienporträt

Für seinen Debütspielfilm "Der Tod des Herrn Lazarescu" wurde der rumänische Regisseur Cristi Puiu mehrfach ausgezeichnet und unter anderem in der Reihe "Un Certain Regard" 2005 in Cannes. Mit "Sieranevada" legt er nun ein experimentelles Familienporträt vor, bei dem sich im familiären Mikrokosmos die großen Anliegen der Gesellschaft spiegeln.

Frau und Mann im Gespräch

Viennale

Kulturjournal, 27.10.2016

40 Tage nach dem Tod des Familienoberhaupts kommt die Großfamilie noch einmal in seiner Wohnung zusammen, um eine Gedenkzeremonie mit priesterlichem Segen abzuhalten. Doch der Priester verspätet sich und mit fortschreitender Wartezeit entwickelt sich unter den anwesenden Kindern, Schwiegerkindern und Geschwistern eine eigenwillige Dynamik aus emotionalen und politischen Diskussionen, Lachen und Weinen, Streit und Versöhnung.

Im Schlafzimmer beklagt Tante Ofelia den Ehebruch und den umtriebigen Lebenswandel ihrer Tochter. Im Wohnzimmer werden bei Wein und Bier die Anschläge auf "Charlie Hebdo" und Verschwörungstheorien zu 9/11 ausgebreitet, in der Küche hält unterdessen Tante Evelina in Pelzhaube und Perlenkette glühende Brandreden auf den Kommunismus vor Ceausescu, während ihre Nichte Sandra unter Tränen protestiert.

Statische Kamera als Beobachterin

Die Kamera ist jeweils in einer Ecke des Raumes positioniert. Gleichsam als unsichtbare Beobachterin des Geschehens, schwenkt sie nach links und rechts, um so Diskussionsteile aus den unterschiedlichen Räumen zu erhaschen.

Türen öffnen und schließen sich, Lachen und Weinen bricht kurz hervor um gleich darauf abrupt abzuebben. Auch nach der Ankunft des Priesters, während der Segnung der Gaben und des symbolischen Totenanzugs bleiben manche Gesprächsfetzen unhörbar, manche Gesten und Blicke hinter Rücken und Köpfen oder angelehnten Türen verborgen.

Subjektive Geschichten von allgemeiner Gültigkeit

Als junger Vater des Aufbruchs im rumänischen Kino wird Cristi Puiu gern bezeichnet. Mit "Sieranevada" bringt er ein formales und ästhetisches Experiment auf die Leinwand, das bei aller Subjektivität ein Genrebild von allgemeiner Gültigkeit entwirft. Diese Familienkonstellation könnte an jedem beliebigen Ort stattfinden, so der Regisseur. Deshalb stelle auch der Titel - "Sieranevada" mit einem "r" geschrieben - nur eine phonetische Annäherung an einen Ort dar, der bei vielen sofort eine Assoziation hervorrufe.

Gelungenes Kinovergnügen

Fast drei Stunden dauert die Familienzusammenkunft, immer sind fünf bis zehn Personen gleichzeitig in unterschiedliche Handlungen und Dialoge eingebunden, die parallel in den Räumen der Wohnung ablaufen. Jede der Figuren bringt ihre eigene Geschichte mit, viele davon entwickelten sich erst während des Drehs. Etliche Handlungen gehen aufgrund der Kameraposition verloren, aber die Lücken eröffnen der eigenen Phantasie weite Räume und laden ein, mit zu leben und die Geschichten für sich selbst weiter zu spinnen. "Sieranevada" ist ein gelungenes filmisches Experiment, das nach anfänglicher Gewöhnungsphase großes Kinovergnügen bereitet.

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