Walking Art - eine Einführung

Die Walking Art vereint zwei völlig getrennte Aktivitäten: das Gehen und das Schaffen von Kunst. Geprägt hat den Begriff der Brite Hamish Fulton, der auch den Österreicher Michael Höpfner inspiriert hat. Ein Gespräch.

Hamish Fulton, Cornwall, 2013

Hamish Fulton, Cornwall, 2013

GRAHAM GAUNT

Bereits Ende der 1960er Jahre hat Hamish Fulton in London begonnen, aus dem Akt des Gehens Kunst hervorgehen zu lassen. Egal ob kurze Spaziergänge, Pilgermärsche oder Extremtouren, die ihn bis auf den Gipfel des Mount Everest geführt haben, es gibt wohl keine Weise des Gehens, die Fulton in seiner mittlerweile fast fünfzigjährigen Karriere nicht zu Kunst hat werden lassen. Fulton, der heuer seinen 70. Geburtstag gefeiert hat, war aber auch Inspiration für eine nachfolgende Künstlergeneration.

Einer von ihnen ist der Österreicher Michael Höpfner, der sich immer wieder alleine in entlegene Regionen begibt, in den indischen Himalaya oder ins Hochland von Tibet, um sich dort mentalen und physischen Ausnahmezuständen auszusetzen. Übersetzt haben Fulton und Höpfner ihre Touren in Fotos, Texte oder Bild-Text-Collagen. Gestern Abend haben sie bei einer Diskussion im Kunstraum Niederösterreich Einblicke in die Walking Art und ihre ganz persönlichen Zugangsweisen zum Akt des Gehens gegeben.

Kulturjournal, 30.11.2016

Hamish Fulton, gehen wir zurück zu den Anfängen. Sie haben Ende der 60er Jahre in London studiert und damals die Walking Art ins Leben gerufen. Hatte das etwas zu tun mit dieser Zeit und der gesellschaftlichen Situation dieser Jahre?

Fulton: Wir waren damals eine Gruppe von Studenten am St. Martin's College of Art und 1967 hatten wir die Idee, einfach von unserer Schule im Herzen von London aufs Land hinauszumarschieren. Wir durchquerten also das Menschen- und Verkehrsgewühl der Londoner City und landeten viele Stunden später auf einer leeren, grünen Wiese. Von da an entwickelte sich das Gehen für mich mehr und mehr zu einem Kommentar zur gesellschaftlichen Situation. Gleichzeitig war es aber auch eine Reaktion auf die Kunstgeschichte. Als Student kann man von den bestimmenden Künstlern seiner Zeit eingeschränkt oder richtiggehend erdrückt werden. Man verliert dann schnell seine Instinkte und beginnt Variationen zu berühmten Kunstwerken abzuliefern. Ich merkte damals aber, dass mich das Leben weit mehr interessierte als die Kunstgeschichte.

Michael Höpfner, Sie sind fast genau eine Generation später zur Walking Art gekommen. Geschah das aus ähnlichen Gründen wie bei Hamish Fulton?

Höpfner: Ich habe Mitte der 90er Jahre in Wien studiert und damals gab es an der Akademie fast ausschließlich Klassen für Malerei. Ich wollte meine Kunst aber in keinem Atelier schaffen. Wanderungen hatte ich damals schon vorher unternommen, freilich noch völlig ohne den Anspruch, daraus Kunst zu machen. Ich erkannte aber, dass mir das Gehen die Möglichkeit bot, aus der Gesellschaft herauszutreten, meinen eigenen Weg zu finden und eingefahrene Gewohnheiten und Verhaltensweisen hinter mir zu lassen. Als ich dann als Student von der Walking Art erfuhr, gefiel mir dieser Ansatz nicht nur als Reaktion auf die Gesellschaft, sondern auch als Reaktion auf das System Kunst. Ich wollte hinaus und machte deshalb mein Zelt zu meinem Atelier und damit ging es los.

Kunst zu machen gilt jetzt vorrangig als intellektueller Prozess, auch wenn der Körper stark involviert sein kann. Im Wandern steckt aber auch ein starker sportlicher Aspekt, da geht es um Ehrgeiz und das Überwinden der eigenen Grenzen. Ist dieses Denken Teil Ihrer Kunst?

Fulton: Mit Sicherheit. Mich haben schon früh die Extrembergsteiger beeinflusst, ohne dass ich selbst ein Extrembergsteiger gewesen wäre. Mir war diese Nähe auch wichtig, weil ich mich dadurch gegen die Kategorisierung durch die Kunstkritiker zur Wehr setzen konnte. Die rückten mich nämlich entweder in die Nähe der britischen Landschaftsmalerei, also in eine Tradition, die auf William Turner zurückgeht oder in die Nähe der Land Art. Ich fühle mich aber keiner der beiden Richtungen zugehörig. Deshalb prägte ich für mich den Begriff Walking Artist.

Das ist kein Etikett, das mir irgendein Kritiker verliehen hat, das habe ich mir selbst umgehängt. Das führte dann dazu, dass ich Expeditionsberichte las, Vorträge von Extrembergsteigern besuchte und ihren Kontakt suchte. Das führte auch zu meiner Hinwendung zum klar Faktischen. Egal wie kurz eine Wanderung war, ich wollte sie genau dokumentieren. Ich bin kein Schriftsteller und kann mich nicht literarisch ausdrücken und habe mich stattdessen darauf verlegt, die reinen Fakten zu liefern: Ausgangs- und Zielort, Datum und Uhrzeit und die exakte Distanz, die ich marschiert bin. Das Wichtige ist nämlich: Ich lege jeden einzelnen Meter dieses Weges zu Fuß zurück, da gibt es kein den Busnehmen oder Autostoppen, sondern nur ein ganz puristisches Einen-Fuß-vor-den-anderen-Setzen.

Höpfner: Für mich war der körperliche Aspekt von Anfang an ganz zentral. Mich faszinierte es, was anstrengende Wanderungen mental und körperlich mit mir anstellen und ich bin deshalb in den Himalaya gefahren und habe dort ausgedehnte Trekking-Touren unternommen. Wenn man sich eine längere Zeit in Höhen zwischen vier- und fünftausend Metern aufhält, rücken der körperliche und der mentale Aspekt massiv in den Vordergrund. Mein Verhältnis zur Natur wird da völlig auf den Kopf gestellt, denn sie zwingt mir eine ganz eigene Art zu leben auf. Meine ganzen Gewohnheiten, meine Geschwindigkeit, meine Schritte, alles muss ich umstellen und diese Veränderungen lassen einen schließlich auch ganz neu über seine Kunst nachdenken.

Das Schreiben nimmt in Ihrer Arbeit einen großen Raum ein. Wie hat sich ihre Verwendung von Text in den Jahrzehnten Ihrer Praxis als Walking Artist verändert, Hamish Fulton?

Fulton: Die ganzen 70er Jahre hindurch waren meine Arbeiten ausschließlich Kombinationen aus Schwarz-Weiß-Fotos und einem kurzen Text unterhalb des Bildes. Dann bemerkte ich, dass niemand die Texte las, alle konzentrierten sich nur auf die Fotos. Das rückte mich mit meinen Darstellungen von Flüssen und Bergen, wie gesagt, in die Tradition der Landschaftsmalerei. Deshalb begann ich, die Fotos ganz weg und die Schrift dafür immer größer werden zu lassen, bis ich die Buchstaben schließlich riesengroß auf die Wand schrieb.

Wenn mich beim Schreiben jemals Naturlyrik beeinflusst hat, dann noch am ehesten japanische Haikus, mit ihrer kurzen und präzisen Aufzählung verschiedener Wahrnehmungen, wie "Blauer Himmel, grünes Gras, rote Blume", weil da keinerlei Romantisiererei stattfindet. Manche Kritiker halten meine Kunst deshalb für zu kopflastig, dabei schaffen viele Betrachter einfach nicht den Sprung von meinen knappen Texten in großen bunten Buchstaben zu dem tatsächlichen Akt des Gehens. Es gelingt ihnen einfach nicht, meine Wanderung in ihrer Vorstellung nachzuvollziehen. Darum geht es aber und darum bin ich auch kein Konzeptkünstler. In der Konzeptkunst bleiben Ideen nämlich Ideen, ich verwandle eine Idee aber in eine reale körperliche Erfahrung.

Höpfner: Im Unterschied zu Hamish Fulton habe ich in den 90er Jahren studiert und da beherrschte gerade die ganze Diskussion um die verschiedenen Medien das Geschehen. Es gab die deutsche Fotografie, die narrativen Tendenzen in der Videokunst und natürlich eine Menge Theorie; weil ich mich viel in exotischen Ländern aufhielt, wurde für mich da vorrangig die Beschäftigung mit der postkolonialen Theorie zwingend. Mir ging mehr und mehr die Geradlinigkeit meiner früheren Arbeiten verloren und ich fuhr auch zunehmend in Regionen, in denen postkoloniale oder touristische Einflüsse besonders eklatant waren.

Vor wenigen Jahren habe ich diesen ganzen Theorieballast wieder abgeworfen und mich wieder dem existentiellen Aspekt des Wanderns zugewandt. Mich interessiert jetzt, wie ich als Mensch im Jahr 2016 der Natur gegenüberstehe. Der Begriff der Natur und das Verhältnis der Gesellschaft und der Politik zur Natur hat sich in den letzten zwanzig Jahren so drastisch gewandelt, und das steht jetzt für mich im Zentrum meiner Arbeit.