40 Jahre Charta 77

Der Gründungsakt der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung jährt sich zum 40. Mal.

Hand hält ein Blatt Papier

Im Jahr 2012 wurde das Originaldokument der "Charta 77" im Landesgericht Wien im Rahmen einer Ausstellung präsentiert.

APA/HERBERT NEUBAUER

Am 1. Januar 1977 wurde die Charta 77 mit 242 Unterschriften veröffentlicht und am 7. Januar 1977 in führenden europäischen Zeitungen wie "The Times", "Le Monde" oder der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" abgedruckt.

Kernanliegen der Bewegung war die CSSR zur Einhaltung der Schlussakte von Helsinki zu bewegen, das heißt also zur Sicherung und Wahrung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit.

Stellvertretend für viele andere, die für ihr Engagement in der Charta 77 verfolgt wurden, emigrierten oder mit ihrem Leben bezahlten, sei hier an die Chartistin, Gertruda Sekaninova-Cakrtova erinnert. Sie wird 1908 als ältestes von vier Kindern in Budapest als Gertruda Stiassny geboren. Ihre aus Böhmen stammenden jüdischen Eltern besitzen eine Textilfabrik.

Verfolgung durch die Nationalsozialisten

Schon als Studentin der Rechtswissenschaften an der Karls-Universität in Prag engagiert sich Gertruda politisch und tritt 1932 der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei bei. 1935 heiratet sie den Rechtsanwalt Ivan Sekanina, ein überzeugter Kommunist auch er. Sekanina wird am 16. März 1939, dem Tag der deutschen Invasion, verhaftet und ein Jahr später in Sachsenhausen hingerichtet. Gertruda, zu dem Zeitpunkt 31 Jahre alt, kann noch einige Zeit als Anwältin arbeiten. 1942 wird sie nach Theresienstadt deportiert, später in ein Nebenlager des KZ Auschwitz.

Flucht und Aufstieg in der KP

1945 gelingt ihr auf einem Todesmarsch Richtung Bergen-Belsen die Flucht. Sie kehrt zurück nach Prag, beginnt für das Außenministerium bei den Vereinten Nationen in New York zu arbeiten, wird ins Zentralkomitee der KP gewählt. Obwohl sie in den Augen des Regimes eine "Klassenfeindin" ist, weil jüdisch, wohlhabend, bourgeoise, schafft sie es dank einflussreicher Freunde, in der stalinistischen Zeit halbwegs unbehelligt zu bleiben.

Nach dem politisch motivierten Selbstmord ihres zweiten Mannes, Kazimir Cakrt (mit dem sie einen Sohn hat), im Jahr 1957, wird sie vom Außenministerium ins Unterrichtsministerium versetzt, leitet dort die Rechtsabteilung. 1963 sagt sie bei einem "Prozess in Abwesenheit" gegen den Verfasser der Nürnberger Rassengesetze, den Juristen und Chef des Bundeskanzleramtes unter Konrad Adenauer, Hans Globke, aus.

Der Bruch mit dem System

1964 kehrt Gertruda Sekaninova-Cakrtova zurück in die Politik, wird Mitglied der Nationalversammlung und unterstützt 1968 während des Prager Frühlings die Forderung nach Abschaffung der Zensur. Zu jenem Zeitpunkt ist sie noch überzeugte Kommunistin. Doch die Invasion ihres Landes durch die Warschauer-Pakt-Truppen im August desselben Jahres bricht ihrer politischen Überzeugung das Genick.

Gemeinsam mit drei anderen Mitgliedern der Nationalversammlung (einer von ihnen: Frantisek Kriegel, ehemaliger Spanien-Kämpfer, Arzt, medizinischer Berater Fidel Castros, Reformer wie Alexander Dubcek) stimmt sie gegen das sogenannte Moskauer Protokoll, mit dem alle Reformprojekte zurückgenommen und die Truppen der "kommunistischen Bruderstaaten" gebeten werden zu bleiben. Nicht nur das: Sekaninova-Cakrtova fordert deren Abzug. Daraufhin entzieht man ihr alle Ämter und schließt sie aus der KP aus. Sie ist 60 Jahre alt. Von nun an arbeitet Sekaninova-Cakrtova in der Opposition.

Die Charta 77

Nach der Verhaftung einiger Mitglieder der legendären Underground-Band Plastic People of the Universe im Jahr 1976 gehört sie, die erfahrene Anwältin, nun zum engen Kreis jener Intellektuellen, die die fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen beim Namen nennen. Am 7. Jänner 1977 veröffentlichen führende europäische Zeitungen wie die "Times", "Le Monde" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" einen Text, der am 1. Jänner in der CSSR veröffentlicht worden ist: die Charta 77. Die ersten 242 Unterzeichner/innen - unter ihnen Gertruda Sekaninova-Cakrtova - fordern die Einhaltung der von der tschechoslowakischen Regierung 1976 unterzeichneten und verabschiedeten internationalen Verträge über Menschen- und Grundrechte, essenzielle Bestandteile der Schlussakte von Helsinki. Am 14. Jänner 1977 schreibt der Dramatiker Vaclav Havel in seinen Taschenkalender: "Fingerabdrücke. Sie kamen mich holen."

Internationale Unterstützung

Am 17. Jänner entsteht in Paris ein internationaler Ausschuss zur Unterstützung der Charta 77, dem unter anderen Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Arthur Miller und Graham Greene angehören. Das Zentralkomitee der CSSR organisiert eine "Anti-Charta". Manche Künstler/innen müssen gezwungen werden, sie zu unterschreiben. Manche, wie Karel Gott, machen es freiwillig, vielleicht sogar aus Überzeugung. Die Chartisten werden diffamiert als "verkrachte Existenzen der tschechoslowakischen reaktionären Burgeoisie", als "Schiffsbrüchige" und "Selbsternannte", die im Auftrag antikommunistischer Mächte des Auslands handeln.

Im April 1978 gründet Gertruda Sekaninova-Cakrtova gemeinsam mit anderen Chartisten den Ausschuss zur Verteidigung von zu Unrecht Verfolgten, Výbor na obranu nespravedlivě stíhaných, kurz VONS. Unter dem Namen Tschechoslowakische Liga für Menschenrechte wird der VONS Mitglied der International Federation for Human Rights und arbeitet eng zusammen mit Amnesty International und Helsinki Watch. Gertruda Sekaninova-Cakrtova wird bis zu ihrem Lebensende von der Staatssicherheit (StB) observiert. Einige Tage vor ihrem Tod am 29. Dezember 1986 notiert ein StB-Mitarbeiter: "Ihr Verhalten dem real existierenden Sozialismus gegenüber bleibt feindselig."