Christine Nöstlinger, Moderatorin und Christian Kern

RI/LEA PACHTA

Kanzler Kern trifft Autorin Nöstlinger

Die Autorin Christine Nöstlinger nimmt sich kein Blatt vor den Mund, sagt gern in klaren Worten, was sie denkt. Christian Kern würde sich und seine Arbeit als Bundeskanzler wohl ähnlich charakterisieren.

  • Christine Nöstlinger

    Christine Nöstlinger

    Renner-Institut/Lea Pachta

  • Nöstlinger, Stemberger, Kern

    Renner-Institut/Lea Pachta

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Wenn also die beiden als Vertreter von Kunst und Politik zusammentreffen, dann kann das als Seismograph der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse gelesen werden. So geschehen am Dienstag im Wiener RadioKulturhaus, wo sich Autorin und Kanzler zum Dialog getroffen haben.

Kulturjournal, 29.3.2017

Er kommt aus Simmering, sie aus Hernals. Christian Kern und Christine Nöstlinger verbindet nicht nur die weltanschauliche Perspektive, sondern auch die gemeinsame Wiener Heimat. Das gestrige Zusammentreffen der Kinderbuchautorin mit dem Bundeskanzler geizte nicht mit Einblicken in die aktuelle gesellschaftliche Verfasstheit. Unsicherheit war da zu spüren, Frust und ein Stück Desillusionierung. Dass darüber recht offen und launig geplaudert wurde, kann wohl auch als Zeichen der Dringlichkeit der Gefühlslage gelesen werden.

"Ist das wirklich Politik, was wir da machen?"

Christian Kern etwa hadert gleich eingangs mit seiner Berufsgruppe und deren aktueller Ausrichtung. "Beruflich frage ich mich schon manchmal, was wir da in der Politik machen? Ob das wirklich Politik ist, die bei den Leuten ankommt und die Probleme löst, die wir angehalten sind zu lösen", so der Kanzler.

Einig waren sich Kunst und Politik gestern jedenfalls in ihrer Verwirrung, was klassische politische Labels und Begrifflichkeiten betrifft. Die bekennend linke Autorin beklagt ganz ungeniert die eigene Orientierungslosigkeit. Früher, da habe sie anhand ihrer älteren Tochter zumindest gewusst, dass die Maoisten noch ein Stückchen linker wären als die Trotzkisten, dass sie und ihr Ehemann "Büttel der Bourgeoisie" wären - damals waren die ideologischen Reviere klar abgesteckt.

Ideologischer Weichspüler

Für Nöstlinger ist die wie ein Magnet wirkende politische Mitte konturlos geworden. Der propagierte Pragmatismus und die weltanschauliche Flexibilität als ideologischer Weichspüler scheinen ihr Koordinatensystem durcheinandergewirbelt zu haben. Für Kern sind ideologische Labels ohnehin eher hinderlich. "Es macht keinen Sinn, darüber viel zu reflektieren, weil diese Zuschreibungen Projektionsflächen sind." Sich damit auseinanderzusetzen bedeute "jedes Gefühl dafür zu verlieren, was Du eigentlich erreichen willst".

Diagnose: Handlungsbedarf

In ihren Diagnosen orten beide Handlungsbedarf - sowohl bei einer Politik, die substanzlos geworden ist und aufmerksamkeitsheischend auf mediale Effekte schielt, als auch bei den Menschen, die auf einen komplexen Alltag mit Bequemlichkeit und dem Wunsch nach einer starken Figur antworten. Da gebe es eine Bringschuld, so Nöstlinger, die an der Verteilung ihrer persönlichen Sympathien Nöstlinger keine Zweifel lässt. Sozialdemokratisch geprägte Großeltern gäbe es immer wieder bei ihr. Besonders stolz zeigte sich die 80-Jährige auf das von ihr erfundene "erste Arbeitergespenst Europas" - Rosa Riedl aus dem gleichnamigen Buch.

Vor seiner Zeit als Kanzler hatte auch Christian Kern in seinem persönlichen Kulturkonsum durchaus noch Platz für Fantasie und magische Volten - Kern verschlang die Bücher der "Harry Potter"-Reihe. Heute setzt Kern wohl schon rein zeitökonomisch motiviert auf maximal effektive Aufnahme und den Genuss von Hörbüchern beim Sport - "ehrgeizgetrieben" und "etwas, was mit Zahlen, Fakten und Biografien zu tun hat".

Nachdenklicher Generationendialog

Zwischen Fantasy und Hörbuch, Arbeitergespenstern und einer Politik, die sich zu oft in Überschriften erschöpft, war der gestrige Dialog auch einer der Generationen. Und dabei spürbar von Nachdenklichkeit geprägt, wie die Einsicht der 80-jährigen Nöstlinger auf den Punkt bringt. "Ich habe mir gedacht, das ist eine Lebensaufgabe", sinnierte Nöstlinger, "dass man immer etwas gescheiter wird und die Welt besser versteht. Aber das ist nicht passiert."

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