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Tonspuren
Das Dritte Reich des Traums
1933 begann die Berliner Journalistin und Schriftstellerin Charlotte Beradt Träume zu sammeln. Traumnotate, die heute wie literarische Seismographien der Errichtung einer Diktatur erscheinen; die von Menschen "während ihrer Einschaltung als Rädchen in den totalen Mechanismus" erzählen und die die Verbrechen, die erst folgen sollten, bereits vorwegzunehmen scheinen.
26. Mai 2017, 02:00
Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des Traums. Franz Kafka, Walter Benjamin, Graham Greene, Helene Cixous, Franz Fühmann, Paula Ludwig, Heiner Müller, Georges Perec, sie alle dokumentierten ihre Träume. Ebenso taten dies, wenn auch nicht unmittelbar literarisch motiviert, Fabriksbesitzer, Schneiderinnen, Milchlieferanten oder Gemüsehändler.
Die Traumbilder der 1930er-Jahre, die Charlotte Beradt protokollierte, zeugen von einer Wirklichkeit, "die sich gerade anschickte, zum Alptraum zu werden"; Träume in schwarz-blond, diktiert von der Diktatur.
Traumnotat
"Ich werde mich im Blei verstecken. Zunge ist schon Blei, Blei festgeschlossen. Angst wird vergehen, wenn ich ganz aus Blei bin. Werde regungslos liegen, Blei erschossen."
"Träume scheinen zwar die Wirkung äußeren politischen Geschehens im menschlichen Innern minuziös aufzuzeichnen wie ein Seismograph, doch sie stammen aus einer unwillentlichen psychischen Tätigkeit. Sie scheinen voller Aufschlüsse über die Affekte und Motive von Menschen während ihrer Einschaltung als Rädchen in den totalen Mechanismus."
Das notierte Charlotte Beradt in ihrem Buch "Das Dritte Reich des Traums", das erstmals 1966 in der Nymphenburger Verlagshandlung in München erschien. Im Buch heißt es weiter: "Herr S., der etwa sechzigjährige Besitzer einer mittelgroßen Fabrik, träumte am dritten Tag nach Hitlers Machtergreifung einen Traum in dem er gebrochen wurde, obwohl er physisch unangetastet blieb:"
Traumnotat
"Goebbels kommt in meine Fabrik. Er läßt die Belegschaft in zwei Reihen, rechts und links, antreten. Dazwischen muß ich stehen und den Arm zum Hitlergruß heben. Es kostet mich eine halbe Stunde, den Arm, millimeterweise, hochzubekommen. Goebbels sieht meinen Anstrengungen wie einem Schauspiel zu, ohne Beifalls-, ohne Mißfallensäußerung. Aber als ich den Arm endlich oben habe, sagt er fünf Worte: 'Ich wünsche Ihren Gruß nicht', dreht sich um und geht zur Tür. So stehe ich in meinem eigenen Betrieb, zwischen meinen eigenen Leuten, am Pranger, mit gehobenem Arm. Ich bin körperlich dazu nur imstande, indem ich meine Augen auf seinen Klumpfuß hefte, während er hinaushinkt. Bis ich aufwache, stehe ich so."
"Der Traum des Fabrikbesitzers, der direkt aus der Werkstatt des totalen Regimes zu kommen schien, wo der Mechanismus seines Funktionierens erzeugt wird, festigte in mir einen Gedanken, den ich schon flüchtig gehabt hatte: daß Träume wie dieser nicht verlorengehen sollten. Sie könnten zur Evidenz gehören, wenn dem Regime als Zeitphänomen einmal der Prozeß gemacht würde. Ich fing also an, von der Diktatur diktierte Träume zu sammeln."
Träume sind Archive des Wissens
Barbara Hahn
2016 wurden Beradts Protokolle vom Suhrkampverlag neu aufgelegt. Die Germanistin Barbara Hahn hat die Neuauflage kommentiert.
Tonspuren - das Literaturfeature - "Das Dritte Reich des Traums"