Liliane Amuat, Franziska Hackl, Barbara Horvath

SANDRA THEN

Dreiwöchiges Festival

Mut zum Experiment: Theatertreffen Berlin

Eine Einladung zum Berliner Theatertreffen ist wie ein Ritterschlag und heiß begehrt. Eine Jury wählt alljährlich die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison aus. Zum ersten Mal seit 2013 ist keine österreichische Produktion dabei. Bei der diesjährigen Auswahl setzt sich ein Trend der jüngeren Geschichte des Festivals fort: Die klassischen Stücke und Texte geraten in den Hintergrund.

Mittagsjournal, 9.5.2017

Am Wochenende hat das dreiwöchige Festival begonnen. Mit der Eröffnungsinszenierung von Simon Stone: Anton Tschechows "Drei Schwestern" - ohne ein einziges Originalwort von Tschechow.

Auf der Bühne dreht sich ein komplett eingerichtetes Haus. Mit Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmern und einem Bad. Die Zimmer sind hell erleuchtet. Durch die bodentiefen Fenster kann man die drei Schwestern Olga, Mascha und Irina mit ihren frustrierten Freunden beim Feiern, beim Streiten und letztlich beim totalen Zusammenbruch beobachten. Regisseur Simon Stone übernimmt in seiner Inszenierung für das Theater Basel von Anton Tschechow nur die Figuren und stattet sie mit Texten und einer Sprache aus, wie man sie heute bei einem Streit im Nachbarhaus belauschen könnte.

Radikal und modern in Form und Inhalt, das sei die diesjährige Handschrift, sagt die Leiterin des Theatertreffens, Yvonne Büdenhölzer: "Die zwei Altmeister sind Herbert Fritsch, der seine Abschiedsproduktion an der Berliner Volksbühne 'Pfusch' zeigt und Johan Simons, der Theodor Storms 'Der Schimmelreiter' interpretiert hat. Das Stück wird in Berlin wegen einer Erkrankung im Ensemble nur als szenische Lesung gezeigt."

Bewusstseinsveränderung durch Reizüberflutung

Das größte Experiment wagt zweifellos der Intendant des Schauspiels Dortmund, Kay Voges: Er will mit seinem Theater das "Hier und Jetzt" untersuchen, mit den Mitteln der Gegenwart. Und das sind für ihn nicht Holzbühnen und Kostüme, sondern die virtuelle Realität von Computerspielen und das Internet. "Die Geschichten, die ich abends vor dem Computer mitkriege, die sind einfach nur noch verlinkt und dreidimensional vernetzt", sagte Voges. Und genauso funktioniert auch seine Theaterinstallation unter dem Titel "Die Borderline Prozession".

https://vimeo.com/185806304

Ein Umzug mit 23 Darstellern und Weihrauch, der sich immer wieder im Kreis dreht, mit minimalen Abweichungen - durch unterschiedliche Räumlichkeiten. Die Zuschauer können entscheiden, welchen Ausschnitt sie heranzoomen wollen und erleben im Laufe des Abends eine Bewusstseinsveränderung durch totale Reizüberflutung. Und genau das, sagt der Intendant der Berliner Festspiele Thomas Oberender sei doch genau der Zustand mit dem die nächste Generation der Theaterbesucher gerade aufwachse.

Wiederholung, Illusion und Tabubruch

Auch die internationale Koproduktion "Real Magic" der britischen Performance-Truppe Forced Entertainment nutzt die ständige Wiederholung als Kunstform. Die Gruppe zeigt eine improvisierte Quizshow mit den immer gleichen falschen Antworten in einer absurden und komischen Dauerschleife.

Eine ganz andere Art von Theater zeigt der Schweizer Thom Luz mit seinen "Traurigen Zauberern" in dem es lose um die Kunst und die Konkurrenz von Magiern geht, vor allem aber um Theater als Illusionsmaschine.

Andere Produktionen verhandeln Gefühle und Affekte mit großer Radikalität und bewussten Tabubrüchen: wie zum Beispiel der Schweizer Regisseur Milo Rau mit einem Theaterabend über den belgischen Mädchenmörder Marc Dutroux.

Ein Stück im Stück mit einem gespielten Regisseur, der mit Kindern auf der Bühne Schauspielübungen macht. In Frankfurt durfte das Stück aus Jugendschutzgründen nicht gezeigt werden. Der Berliner Regisseur Ersan Montag treibt in "Die Vernichtung" den Lebensüberdruss junger gelangweilter Großstädter auf die Spitze. Bei Ulrich Rasches Adaption von Schillers "Räubern" bewegen sich die Schauspieler auf riesigen Laufbändern, im Gleichschritt einer fremd bestimmten Massenbewegung. Die Inszenierung kann aus technischen Gründen in Berlin nur als Aufzeichnung gezeigt werden.

Grenzenlose Überforderung darstellen

Um Gewalt und Affekt geht es auch bei Claudia Bauer, die den Roman "89/90" über das Ende der DDR auf die Bühne bringt und der rechtsradikalen Gewalt nachspürt die es - von vielen vergessen - damals in Ostdeutschland gegeben hat. Dort wo heute Pegida und die AfD besonders großen Zulauf haben. Eine Aufarbeitung von Geschichte und Gegenwart im Theater, sagt die Regisseurin.

https://vimeo.com/180298368

Die diesjährige Zehner-Auswahl in Berlin zeigt vor allem eines: den Versuch, auf der Bühne Grenzen zu überschreiten und so die grenzenlose Überforderung darzustellen, die viele Menschen in der heutigen Welt empfinden.

Gestaltung: Birgit Schwarz

Berliner Festspiele - Theatertreffen, 6. bis 21.5.2017