Performance, Mann in Blau, Zitrusfrüchte im Netz

VANNESSA BOHN

Skulptur von Daniel Lie

Festwochen: "Death Center for the Living"

Das Performeum der Wiener Festwochen - gleichermaßen Festivalzentrum und temporäres Museum für performative Künste - bietet von Donnerstag bis Sonntag ab 18:00 Uhr Performances, Installationen und interaktive Ausstellungen, darunter auch das "Death Center for the Living" des brasilianischen Künstlers Daniel Lie, eine Skulptur an der Grenze zwischen Leben und Tod.

Morgenjournal, 18.5.2017

Betrachtungen eines Verwesungsprozesses

Noch ist alles im Werden. Daniel Lie und sein vierköpfiges Team arrangieren hunderte Blumen, Samenpäckchen und Zitrusfrüchte bis knapp unter die Decke und kleiden den Boden mit einem Teppich aus Stroh und Matsch aus. Zehn bis zwölf Tage hat er gebraucht, um die raumfüllende Installation in teils schwerer Handarbeit aufzubauen, wie er sagt. Drei Wochen lang bleibt sie dann in der Halle, nein, nicht bestehen, sondern im ständigen Veränderungs-, Verwesungs- und Erneuerungsprozess.

"Da ich mit Materialien arbeite, die an die Zeit gebunden sind, verändern sie sich, sie verrotten, leben", so Daniel Lie. "Das ist nichts, was ich kontrollieren kann und immer passiert etwas unerwartetes, es ist also auch dem Zufall überlassen."

Grenzerfahrungen im Urwald

Beim ersten Anblick erinnert das imposante Kunstwerk an das Vanitas-Motiv barocker Stillleben, doch Daniel Lies Zugang entspringt einer gänzlich anderen Erfahrung, nämlich einem Aufenthalt im brasilianischen Urwald. Fünf Tage lang habe er dort in der Natur verbracht: "Hätten mich die Indigenen dort allein stehen gelassen, wäre ich als weißer Westlicher einfach gestorben."

In der Üppigkeit des Urwaldes entstanden Lies Gedanken darüber, wie eng verbunden Leben und Tod eigentlich seien, so der Künstler: "Wenn das tote Blatt zum Beispiel nicht zu Boden fiele, würde es keine Pilze geben, die daraus neues Leben bilden."

Leben und Sterben als Prozesse

Wo endet das Leben, wo beginnt der Tod, und wie viel von unseren verstorbenen Ahnen tragen wir immer noch in uns? Das sind für Daniel Lie die brennenden Fragen hinter dem "Death Center of the Living": "Sobald wir sterben, beginnt unser Körper schon, sich zu verändern und zu verfallen. Aber für mich steckt darin eine gewaltige Lebenskraft und ein Verständnis für das Leben. Für mich ist das kein Gegensatz, sondern eine Vervollständigung."

Lies Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, diesen fließenden Prozess mit allen Sinnen selbst zu erfahren, wenn verwelkte Blütenblätter zu Boden gleiten und sich der Duft der überreifen, teils verfaulenden Zitrusfrüchte unter den der feuchten Erde mischt, aus der neue Pflanzen sprießen. Alle hier verwendeten Früchte sind übrigens Abfälle.

Die Kunst von Fäulnis und Abfall

Daniel Lie: "In Brasilien sind wir täglich mit so viel Hunger und Elend konfrontiert, dass ich vor zwei Jahren beschloss, keine frischen Früchte mehr zu verwenden, sondern nur noch Ausschussware aus Supermärkten. Aber in manchen Ländern geht das zum Beispiel nicht, weil es verboten ist. Da spürt man erst die politische Dimension hinter der Lebensmittelversorgung."

Die Kunst des Verschwindens

Unter die politische mischt sich ganz subtil auch eine gesellschaftliche Note: Lie zeigt einen Verwesungsprozess, den die westliche Welt längst aus ihrer Wahrnehmung verbannt hat, wie er sagt: "Unsere kapitalistische Konsumgesellschaft wirft zwar viel weg, will sich aber nicht mit ihren Abfällen und Ausscheidungen befassen. Wir drücken einfach einen Knopf und alles verschwindet."

Auch diese Installation wird irgendwann verschwunden sein, nämlich vollständig auf dem Komposthaufen, so der Wunsch des Künstlers. Bis dahin lohnt es sich, sie im Performeum zu erleben, durchaus auch mehrmals.

Service

Wiener Festwochen – Death Center for the Living. 18. Mai bis 11. Juni 2017

Gestaltung