Arcade Fire

AFP / FRED TANNEAU

Neues Album

"Everything Now" von Arcade Fire

Als sie in der Mitte der 2000er Jahre wie aus dem Nichts auftauchten, galten die Musiker aus Kanada rasch als Erlöser der Popmusik - mitreißend und mysteriös. Immer noch gelten Arcade Fire als abenteuerlustige Großband, ihr lang erwartetes, fünftes Album "Everything Now" erscheint am Freitag.

Morgenjorunal, 24.7.2017

David Baldinger

Die Bühnenpräsenz der Band rund um das Ehepaar Régine Chassagne und Win Butler, ihre mitreißenden Songs und intensiven Live-Shows machten sie zu einer der wesentlichen Bands der vergangenen Jahre. Von David Bowie über U2 waren alle von ihren schweren, hymnischen Klängen begeistert. Das Debütalbum "Funeral" aus dem Jahr 2004 ist heute noch ihre Visitenkarte - ein Album voller Klassiker. 2017 ist der Messias-Bonus zwar etwas verbraucht, aber Arcade Fire gelten immer noch als abenteuerlustige Großband. Mit "Everything Now" erscheinen das fünfte Album.

Kalkulierte Betäubung

Vier Jahre hat es gedauert - dafür servieren Arcade Fire auf ihrem neuen, fünften Album, gleich alles auf einmal. "Everything Now". Dort, wo früher ein analoger Instrumentenreigen aus Bläsern, Streichern oder Kirchenorgeln über Hörer und Konzertbesucher hereinbrach, klingt "Everything Now" beim ersten Hinhören nach soundtechnischer Abverkaufsware. Das große Design ist immer noch da, die Ambition, der Zug zum hymnischen Drama. Doch der sofort erkennbare Arcade-Fire-Sound schlägt hier fröhlich in Richtung Disco aus, borgt sich Ska-Beats und driftet in New-Wave-Gefilde ab.

Früher warfen Kritiker Arcade Fire gerne vor in ihrer musikalischen Referenzküche immer nur brave weiße Sounds einzukochen, das gilt spätestens jetzt nicht mehr. Auf "Everything Now" stampft der 70er Bass wie in einem Shaft-Film und vermischt sich mit der Disco-Luftigkeit silbrig schimmernder Tanzflächen.

Dabei könnte man "Everything Now" als "selbstgewählte Fahrstuhlmusik" bezeichnen. Das Album hinterlässt einen anfangs etwas ratlos und taub wie nach einer stundelangen Online-Session. Ein gewünschter Effekt, denn hier geht es um Überforderung durch das Internet. "Alles ist konsumierbar, der Inhalt grenzenlos", klagt Sänger Win Butler etwa auf "Infinite Contentv. Butler klingt dabei wie einer, der sich dem Daten-Überfluss und der sintflutartigen Bilderüberflutung hingegeben hat - nur um am Ende erschöpft zurückzubleiben.

Große Bands im Tarnanzug

Wie passend, dass die Band noch nie kommerziell erfolgreicher war als mit der Single "Everything Now" - für Gründungsmitglied Tim Kingsbury kein Unfall, sondern eine unterbewusste Entwicklung. "Wir liegen nicht nachts wach und denken über Chartsplatzierungen nach", so Kingsbury, "aber ‚Everything Now‘ ist auch kein Zufallsprodukt - eher eine unterbewusste Entwicklung." Arcade Fire tun auf der Platte das, was große Bands auszeichnet: Sie legen den musikalischen Tarnanzug an und passen sich ihrer thematischen Umgebung an. Altes mit Neuem zu verbinden, mit Überzeugung und musikalischem Punch, das wären die Kennzeichen relevanter Bands, meint auch Gitarrist Richard Reed Perry. "Die Großen verknüpfen alt und neu, sie haben eine Handschrift und musikalisches Gewicht."

Abwechslung und produktive Ruhelosigkeit

Produziert hat unter anderem Steve Mackey von der britischen Band Pulp sowie Thomas Bangalter, einer der beiden Helmträger von Daft Punk. Und deren Synthieklänge passen wie angegossen zur zelebrierten Oberflächlichkeit auf Songs wie "Put Your Money on Me". Auch Geoff Barrow von Portishead mischte an den Reglern mit. Für die Band sind ihre Produzenten "temporäre Mitglieder, mit denen man keine komplizierte persönliche Geschichte hat - unbeschwerte Ideengeber", wie Richard Reed Perry ausführt.

Abgebrannt

Eine abgebrannte Vergnügungshalle stand einst Pate für den Bandnamen Arcade Fire - 2017 ist das Internet die größte globale Vergnügungshalle. Content essen Seele auf - digitaler Exzess als gesellschaftlicher Dauerzustand, so der Befund von Arcade Fire.

Arcade Fire fügen mit "Everything Now" ihrer bisher schon beeindruckenden Diskographie eine weitere außergewöhnliche Veröffentlichung hinzu. Weniger dramatisch und recht eindeutig nicht das Opus Magnum der Band. Dass die Intensität nach vier Alben und unzähligen Shows nachlässt scheint nachvollziehbar - dafür klingen Arcade Fire 2017 entspannter als je zuvor. Die Band offeriert auf Everything Now Benommenheit durch digitale Maßlosigkeit. Auch das kann man als Musikprodukt nebenbei konsumieren - und sich über Beiläufigkeit und verlorene Dringlichkeit mokieren - man kann sich aber auch damit auseinandersetzen. Es ist nämlich eine Einladung, wie sie die aktuelle Popmusik nicht jeden Tag ausspricht.

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