Zigarettenasche auf Text

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Das doppelte Leben des Raymond Carver

"In der Seele gibt es ein Bedürfnis, nicht zu denken". In seinem preisgekrönten Feature spürt Alfred Koch dem doppelten Leben des Schriftstellers Raymond Carver nach. Eine Sendung im Rahmen der Reihe "Museum der Meisterwerke".

Robert Altman verfilmte in "Short Cuts" einige von Carvers besten Geschichten. Man verglich den 1988 an Lungenkrebs verstorbenen Autor mit Hemingway und Cechov und feierte ihn als literarischen Minimalisten. Raymond Carver, der Arbeitersohn aus Oregon, wurde in den 1970er und 1980er Jahren in den USA zu "jedermanns Lieblingsschriftsteller".

Er schrieb kurze Geschichten von kleinen Leuten in der Ära von Reagan und Thatcher: Erzählungen von somnambulen Arbeitslosen und heiligen Trinkern; von Paaren, die aneinander vorbeireden und heillosen Optimisten, die sich in den Fallstricken ihres eigenen Lebens verfangen. Geschichten, die wie hingeworfene Skizzen wirken und doch genau kalkulierte, durchtrainierte Erzählungen sind. Texte, die auf engstem sprachlichen Raum große Bilder zu erzeugen vermögen.

Ein Leben wie eine Kurzgeschichte

Aber Carver fasziniert auch durch seine Lebensgeschichte: Als Gelegenheitsarbeiter beginnt er in den 1960er-Jahren nächtens zu schreiben, verfällt aber immer mehr dem Alkohol: gerade in dem Moment, als sich erste literarische Erfolge einstellen. Ende der 1970er-Jahre, nach mehreren Aufenthalten in Entzugskliniken, gelingt dem notorischen Gin- und Rotwein-Trinker, was niemand für möglich hielt.

Mit Hilfe der "Anonymen Alkoholiker" befreit er sich von der Krankheit; es beginnt, was er selbst sein zweites Leben nannte. Doch dann kommt es wieder einmal anders als geplant: Gerade eben vom Alkoholismus befreit, stirbt der Kettenraucher Carver 1988 an Lungenkrebs. Alfred Koch traf Carvers Witwe und spürte auch seine erste Frau, Maryann Carver, auf.

Ein großartiges Feature, vielschichtig, vielstimmig, direkt, hart und doch poetisch, melodisch, rhythmisch, die Stimmen zu einem wunderbaren Blues vertont.“
Jürg Amann

Internationale Koproduktion

Das Feature "In der Seele gibt es ein Bedürfnis, nicht zu denken - Das doppelte Leben des Raymond Carver" ist eine Koproduktion mit dem WDR und wurde erstmals in der Ö1-Reihe "Tonspuren" am 4. November 2001 ausgestrahlt. Die Sendung wurde mit dem Andreas Reischek-Preis und darüber hinaus mit dem Prix Italia für den Bereich Dokumentation ausgezeichnet. Es ist eine ausgesprochen erfolgreiche Ö1-Produktion: Sie wurde von mehreren internationalen Rundfunkanstalten übernommen und adaptiert, es gibt u.a. eine kroatische, finnische, schwedische, norwegische, australische und dänische Version der Sendung.

Der Prix Italia ist der älteste und traditionsreichste Fernseh-, Radio- und Web-Wettbewerb. Er wurde von der RAI 1948 in Capri ins Leben gerufen. Die Teilnehmerliste des Prix Italia liest sich wie das literarische Who is Who des 20. Jahrhunderts: Autoren wie Jean Anouilh, Heinrich Böll, Bert Brecht, Italo Calvino, Jean Cocteau, Friedrich Dürrnmatt, Max Frisch oder Umberto Eco haben Arbeiten eingereicht - zu den Siegern zählten u. a. Samuel Beckett, Eugene Ionesco, Harold Pinter und Dylan Thomas.