Benjamin Clementine

Benjamin Clementine - AP/CTK/JAROSLAV OZANA

Musikalische Reflexionen

"I Tell a Fly" von Benjamin Clementine

2015 veröffentlichte der britische Sänger sein Debütalbum "At Least for Now", das unter die Top 10 in Frankreich kam und mehrfach ausgezeichnet wurde. Jetzt ist Benjamine Clementine wieder da: "I Tell a Fly" vereint elf Reflexionen über das Leben als Außenseiter. Miniaturen über Randfiguren und Aliens.

Mittagsjournal, 25.9.2017

David Baldinger

Als Benjamin Clementine sein Debüt "At Least for Now" veröffentlichte war die Aufregung groß. Das Feuilleton, egal ob in Clementines Heimat Großbritannien, seiner zeitweisen Wahlheimat Frankreich oder auch in Deutschland, war hin und weg. Der schlaksige Sänger mit dem markanten Gesicht faszinierte nicht nur durch seine Stimme, vor allem seine Lebensgeschichte rührte.

Clementine verließ schon in jungen Jahren seine Londoner Familie, flüchtete nach Paris, lebte und sang dort auf der Straße, nur um durch seine Kunst schließlich doch noch der Gosse zu entkommen. Eine Fabel zu schön, um ignoriert zu werden. Jetzt ist Benjamine Clementine wieder da - Album Nummer zwei heißt "I Tell a Fly" und schon im Vorfeld überbieten sich Qualitätsblätter wie der "Guardian" mit Lobeshymnen.

Der barfüßige Soul-Mechaniker

Wie sehr die Popwelt nach neuen, einprägsamen Figuren hungert, konnte man in den vergangenen Jahren am Beispiel des Londoner Sängers Benjamin Clementine mitverfolgen. Clementines bewegende Lebensgeschichte - Flucht von London nach Paris, Leben in der Gosse und dann der große Durchbruch - ging durch die Medien. Clementine verkörperte den gepeinigten Künstler. Wer ihn am heurigen "Out of the Woods"-Festival in Wiesen erlebt hat, der weiß um Charisma und Ausstrahlung des Sängers, der bevorzugt barfuß und wie ein Mechaniker im Blaumann auftritt. Die hochgesteckte Turmfrisur zitiert den großen Little Richard. Und auch wenn Clementine bestenfalls am Klavier lümmelt, hat er die große Geste im kleinen Finger.

"I Tell a Fly" ist ein seltsames, wunderliches Album. Ein Kaleidoskop aus Soul-Operette, Pop-Musical und barockem Kunstlied - so auffällig anders wie Clementine selbst. Der ignoriert elegant gängige Pop-Rezepturen und scheint einzig seiner ganz eigenen Vision verpflichtet.

Vagabundenjahre

Benjamin Clementine wuchs als Sohn ghanaischer Einwanderer im Londoner Stadtteil Edmonton auf. Als Teenager überwarf er sich mit seiner Familie - zog nach Paris, lebte dort teilweise auf der Straße und schlug sich als Sänger in Bars und Hotels durch. Vier Jahre währte das Vagabundenleben, dann ging es Schlag auf Schlag. Clementine wird entdeckt, spielt am Filmfestival von Cannes und beeindruckt durch seinen Mix aus Verletzlichkeit und Intensität. Mittlerweile ist es für ihn Routine, für die renommiertesten Blätter zu posieren. Die "New York Times" wählte ihn unter die kreativsten Geister dieses Planeten und Modefotografen scheinen in ihn ebenso vernarrt wie ansonsten recht nüchterne Feuilletonschreiber.

Aufgenommen wurde die neue Platte in den altehrwürdigen Londoner Abbey Road Studios. Einer, der in dort Geschichte schrieb, gehört übrigens zum illustren Kreis der Clementine-Bewunderer: Paul McCartney war nach einem gemeinsamen TV-Auftritt tief beeindruckt.

Die Bühne als Therapie

Auf der Bühne gibt der 28-jährige Brite die extrovertierte Diva, nicht nur optisch im Range eines Little Richard. Charismatisch und selbstsicher. "Alles nur Show", flüstert Clementine im Interview. Seine Bühnenfigur sei sein Schutzschild - dahinter verberge sich ein schüchterner junger Mann, der am liebsten alleine ist. "Alle Künstler, die mich inspirierten, hatten eine falsche Identität", erklärt Clementine. "Sie hatten sie, weil sie keine gewöhnliche Kindheit hatten. Sie wuchsen eben nicht wohlbehütet auf, mit liebenden Eltern, Gute-Nacht-Küssen und einem gemeinsamen Frühstück am Morgen. Die Künstler, die ich kenne, hatten es schwerer. Also erschufen sie eine künstliche Identität, damit sie von den Menschen nicht getreten werden, damit sie nicht verascht oder hinters Licht geführt werden."

Nach seinem Durchbruch vor drei Jahren legt Clementine kein Album vor, das den Erfolg verarbeitet. Im Gegenteil - "I Tell a Fly" vereint elf Reflexionen über das Leben als Außenseiter. Miniaturen über Randfiguren und Aliens. Ein Stempel in seinem amerikanischen Visum inspirierte Clementine zu "I Tell a Fly". "Ausländer mit außergewöhnlichen Fähigkeiten" stand da zu lesen. Ein Alien also. "Das war für mich der Anstoß dazu, zynisch ein ganzes Album darüber über mich als Alien zu schreiben."

"Wenn Du von ganz unten kommst, kannst du das nie vergessen."

Stets entrückt, einmal mit Staunen, dann mit Verwunderung oder Verstörung, blickt Benjamin Clementine auf eine Gegenwart, die für ihn aus Entfremdung, Abschied und Flucht besteht. So besingt er in "Ports of Europe" die Häfen Europas oder das "Phantom of Aleppoville". Trotzdem: "I Tell a Fly" ist weniger ein Album zur Migrationskrise als eine Meditation über Clementines eigenen Platz in der Welt - über das Fehlen von Heimat.

Die Kraft, auf seine Kunst fokussiert zu bleiben, schreibt er seiner einer traumatischen Vergangenheit zu. "Heute bekomme ich Einladungen, die ich vor zehn Jahren auf den Straßen von Paris nie bekommen hätte. Klar. Aber ich denke, ich bin deswegen so konzentriert, weil ich von ganz unten komme. Wenn Du von ganz unten kommst, kannst du das nie vergessen. Dieses Bewusstsein wird dich nie verlassen, es ist in deinem Schlaf, es ist eine permanente Begleitung." Vergleichbar sei das nur mit der Liebe. "Da ist es genauso, wenn du einmal wahre Liebe erfahren hast, dann kommst du davon nicht mehr los. Du wirst es immer und immer wieder erleben wollen. So ergeht es dir auch, wenn du von ganz unten kommst. Du wirst dieses Gefühl nicht los."

In Amerika habe er bemerkt, dass er niemals wirklich angenommen werde. Und zwar Nirgends. Verdammt dazu, ein Reisender zu bleiben. "Ich hatte aber die Carte Blanche quer durch die Welt zu reisen und Menschen zu beobachten. Meine Berufung ist es, darüber zu sprechen und daraus etwas zu erschaffen. Auf diese Art trage ich zum Wohl der Menschheit bei, das ist mein Beitrag", erklärt Clementine zwischen Resignation und Auftrag.

"Nach dem nächsten Album ist Schluss"

Während die Popwelt ihn umschwirrt und feiert, verrät er Ö1 exklusiv, dass er wohl nur mehr ein Album veröffentlichen werde. Dann sei alles gesagt. "Wissen Sie, ich hatte immer schon ein Bauchgefühl dafür, wann sich die Dinge zu Ende neigen. Was ich sagen will: mein drittes Album wird wohl mein letztes sein, um über etwas zu sprechen, das mir wichtig ist. Ich werde es dabei belassen müssen. Was bringt es, fünfzig Alben zu schreiben, wenn man nichts mehr zu sagen hat? Mir wird langweilig, wenn ich mich wiederhole."

"I Tell a Fly" ist in seiner musikalischen Üppigkeit und seinem teilweise barock ausladendem Anstrich keine leichte Kost. Das Beeindruckende daran: Clementine hat nicht nur Texte geschrieben und Songs komponiert, er hat auch produziert und das Artwork gestaltet. Das Album ist sein Werk, niemand sonst könnte wohl diese Songs mit Leben füllen.

Es gibt nicht mehr viele Fabelwesen im Pop. Benjamin Clementine ist eines davon, ein entrücktes Pop-Einhorn, das sich auf seinem zweiten Album "I Tell a Fly" durch elf neue Lieder träumt. Endlich wieder einer, der es wagt, in seinen ganz eigenen Farben zu schillern - und damit gewinnt.

Gestaltung