Wiener Gruppe, 2 welten, 1959

IMAGNO/FRANZ HUBMANN/MUMOK

Der Provokateur im Anzug

Die Mutter der Wiener Gruppe - das war Gerhard Rühm, wenn es nach Dichterkollegen Ernst Jandl geht. Nackte Babies auf der Bühne und zerhackte Klaviere, geschrieene Laute und das Nichtstun, Dialektgedichte und Konkrete Poesie – was für viele als pure Provokation daher kam, hatte System. Gerhard Rühm hat dieses System mitgestaltet.

Wir besuchen Gerhard Rühm dort, wo Schreibmaschine und Klavier stehen, in seiner Wohnung in Köln und lassen uns von ihm sein Archiv zeigen. "Sprechtexte, Melodramen und Chansons" heisst das neue 3-teilige Album von Gerhard Rühm, aufgenommen diesen Sommer mit frischen 87 Jahren.

Am Anfang war die Musik. Gerhard Rühm wächst in einem Musikerhaushalt auf, sein Vater war Kontrabassist bei den Philharmonikern und hielt das Interesse des Sohnes für die Zwölftöner und andere Avantgarden im besten Fall für befremdlich, wie Viele im Wien der Nachkriegszeit.

st, 1963

MUMOK

st, 1963

Von der Musik kam Rühm mit H.C. Artmann und der Wiener Gruppe zur Dichtung, die dann auch so speziell niedergeschrieben wurde, dass daraus wiederum bildende Kunst wurde: Gedichte als Bilder.

Die Dialektik des Dialekts

Für die einen Avantgarde, die mit allem davor Dagewesenen bricht, für die anderen Selbstversicherungswerkzeug: Die Dialektdichtung der Wiener Gruppe kam bei den Modernen genauso an, wie bei den Ewiggestrigen. Zum Beispiel schrieb das Vorwort zu H.C. Artmanns „med ana schwoazzn dintn“ aus 1958 der Kunsthistoriker Hans Sedlmayer. Er hatte für seine NSDAP-Mitgleidschaft in Wien Lehrverbot erhalten und war nach Salzburg und München emigriert. Als Beweis für den künstlerischen Wert von Artmanns düsteren Balladen auf Mörder, Huren und sonstige obskure Gewalt aus dem Volke bemühte Sedlmayer die Ähnlichkeit zu den „ältesten Volksliedern“, zu Zaubermärchen und Barock.

Die Dialektgedichte sollten Publikum und Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Legendär wurde eine Lesung von Gedichten aus "hosn rosn ba" im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses am 9. Dezember 1959. Dort kam es zum Eklat. Der beliebte Volksschauspieler Richard Eybner, auch wegen illegaler Mitgliedschaft in der NSDAP nach 1945 vom Burgtheater eine Zeitlang suspendiert, las. Gerhard Rühm hat die Szene, wie die Volksseele auf den Dialekt reagierte überliefert.

Eklat im Konzerthaus

Die Kunst der Wiener Gruppe, also der Herren Artmann, Achleitner, Bayer, Wiener und Rühm, konnte man lange noch schwerer fassen als Dichtung oder Bühnenarbeiten. 1997 war es dann Zeit, fand Kunstzampano Peter Weibel und präsentierte die Wiener Gruppe im österreichischen Pavillon in Venedig - ein Ritterschlag.