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Ritzen, bis das Blut fließt

Sie schneiden sich mit Rasierklingen, brechen sich absichtlich die Knochen, drücken Zigaretten auf der eigenen Haut aus oder schlagen mit dem Kopf gegen die Wand - etwa ein Prozent der Bevölkerung fügt sich internationalen Schätzungen zufolge regelmäßig selbst Verletzungen zu. Was für die meisten Menschen unvorstellbar ist, nehmen jene, die es tun, oft nicht einmal richtig wahr, sie fühlen Erleichterung statt Schmerz. Psychische Spannung wird abgebaut. Das Schneiden ist ein Ventil in Konfliktsituationen, dient der Wutabfuhr.

Selbstverletzendes Verhalten wird als bewusste Gewebeschädigung definiert, die mindestens fünf Mal pro Jahr absichtlich gesetzt wird, ohne dass eine Suizid-Absicht vorliegt. 75 Prozent der Erkrankten verletzen sich öfter als 50 Mal.

Die häufigste Art der Selbstverletzung ist das Ritzen. Zwei Drittel der Betroffenen greifen zu scharfkantigen oder spitzen Gegenständen, zu Messern, Rasierklingen oder einfach Glasscherben. Sie schneiden dann oft an gut zugänglichen Stellen wie Unterarmen oder Oberschenkel-Innenseiten. Viele Selbstverletzer steigern Häufigkeit und Intensität ihres Handelns. Die innere Leere soll so vertrieben werden. Sich zu verletzen, hat Suchtpotential. Manche haben über tausend Narben am Körper. Das Schneiden kann auch ein Akt der Selbstbestrafung sein, man fühlt sich zu schlecht für die Welt, Ritzen wird dann zu einer Art Bewältigungsstrategie.

Ein averbaler Schrei nach Hilfe

Erste Tendenzen zu selbstverletzendem Verhalten wie massives Nägelbeißen oder Haare ausreißen in Stressituationen werden von Eltern in der Pubertät oft unterschätzt - dennoch können sie schon ein Alarmzeichen sein: das Kind kann sich nicht artikulieren, seine Sorgen nicht mitteilen, die Autoaggression wird so zur nonverbalen Sprache.

"Dein Hirn schaltet ab und das Einzige worauf Du Dich fokusieren kannst, ist diese Klinge und irgendein Körperteil."

Das Ritzen beginnt meistens im Teenageralter zwischen 12 und 15 Jahren. Die Kinder - Mädchen sind häufiger betroffen als Burschen - greifen zu Zirkeln, scharfkantigen Linealen, später auch zu Klingen. Oft sind Missbrauch, Vernachlässigung, Demütigung oder eine akut auftretende seelische Belastung wie die Scheidung der Eltern, Mobbing in der Schule oder der Tod einer nahestehenden Person im Jugendalter Auslöser für autoaggressives Verhalten. Je früher mit einer Psychotherapie begonnen wird, desto höher sind die Heilungschancen.

Viele Betroffene schneiden sich im Geheimen - eingesperrt im Badezimmer oder unter der Bettdecke - und verstecken ihre Narben so weit wie möglich. Sie tragen auch bei hochsommerlichen Temperaturen lange Pulloverärmel und meiden das Schwimmbad. Andere zeigen die sichtbaren Reste ihrer Selbstverletzungen ganz offen. Ihre Narben haben Appellcharakter.

Selbstverletzendes Verhalten ist immer ein Hilfeschrei der Seele. Die Krankheit kann alleine auftreten, meist leiden die Patienten aber gleichzeitig auch noch an anderen Erkrankungen, wie etwa einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, an Depressionen oder einer Angst- oder Essstörung. Der Akt des Schneidens kann rituelle Züge aufweisen - so verwenden manche beispielsweise ausschließlich ein Teppichmesser einer bestimmten Serie, um sich weh zu tun.

Mangel an Fachärzten mit Kassenvertrag

Nach Angaben des Bundesverbandes für Psychotherapie sind derzeit in Österreich 28.000 Jugendliche in psychotherapeutischer Behandlung, das ist nur rund jeder dritte Minderjährige, der von einer psychischen Erkrankung betroffen ist. Von jenen, die an nicht-suizidalem selbstverletzenden Verhalten leiden, werden überhaupt nur zehn Prozent von einem Facharzt behandelt. Der Hauptgrund: Es gibt bundesweit nur 26 niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater mit Kassenvertrag. Im Burgenland und in der Steiermark gar keinen. Nach Informationen der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie bräuchte man österreichweit gut 350 entsprechende Fachärzte, um eine Flächendeckung zu erreichen und lange Wartezeiten auf eine Therapie zu verhindern.

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