Hirschkuh auf einem Friedhof

LES FILMS DU POISSON/RIVA PRODUKTION/KGP

Film

"Wien vor der Nacht" - Eine dokumentarische Spurensuche

Rund 120 Dokumentarfilme und etliche Romanveröffentlichungen hat der 1931 geborene französische Romancier und Filmemacher Robert Bober bisher veröffentlicht, viele davon beschäftigen sich mit seiner eigenen Biografie und seiner jüdischen Familiengeschichte. So auch der jüngste Film "Wien vor der Nacht", eine essayistische Zeitreise auf den Spuren des jüdischen Urgroßvaters.

Morgenjournal | 02 02 2018

"Eine sehr dichte, sehr persönliche und sehr poetische Collage"

Judith Hoffmann

Essayfilm zwischen Realität und Imagination

Eine Porträtaufnahme des zierlichen Urgroßvaters mit dem langen weißen Bart, ein Foto der Großfamilie und zahlreiche Erinnerungen der Mutter. Das sind die wenigen Anhaltspunkte, die Robert Bober mit im Gepäck hatte, als er seine ganz persönliche Erkundungsreise nach Wien antrat.

"Ich wollte den Film weder als Historiker noch als Literaturkritiker erzählen", sagt er, "sondern einfach als Robert Bober, Urenkel des polnischen Juden Wolf Leib Fränkel, der mit 54 Jahren aufgrund der Pogrome und der Misere das Abenteuer wagte, in die USA zu emigrieren, dort sofort wieder ausgewiesen wurde und auf seiner Rückreise in Wien Halt machte, um sich schließlich fern von seiner Familie hier niederzulassen."

https://vimeo.com/201279704

Bis an sein Lebensende im Jahr 1929 sollte Wien die neue Heimat von Wolf Leib Fränkel werden. Nur wenige Jahre nach dem letzten Treffen mit seinen Kindern und Enkeln und nur wenige Jahre nach seinem Tod zerstob der Nationalsozialismus die Familienmitglieder in alle Richtungen, etliche wurden in Konzentrationslagern ermordet. Bober selbst kam 1933, gerade eineinhalb Jahre alt, mit seinen Eltern ins Pariser Exil.

Ich-Erzählung als Selbsterfahrung

Die Ich-Erzählung des Filmemachers trägt die gesamte Dramaturgie und Struktur der Dokumentation. Darin wechselt er zwischen eigenen Erfahrungen, neuen Entdeckungen in Wien und Mutmaßungen zum Leben des Ahnen. "Das Imaginäre nimmt einen wichtigen Platz ein in der Geschichte, und ich sagte mir, weil ich es bin, der hier erzählt, imaginiere ich einfach immer weiter", so Bober.

Dazwischen mischt er zahlreiche Zitate von Schnitzler, Roth, Kafka oder Bernhard, auch weil er in ihren Texten Spuren seiner eigenen Vergangenheit gefunden habe, wie er sagt.

Zwischen Vergangenheit und Vergangenheitsbewältigung

Zwischen historischem Filmmaterial, alten Fotografien und aktuellen Streifzügen durch Wiener Cafés, Straßen und Friedhöfe, finden sich gezeichnete Episoden in Farbe und Schwarz-Weiß und viele Blicke aus Straßenbahn- oder Zugfenstern.

Dieser unverwandte Blick auf die Stadt erlaubt Bober dort hinzusehen, wo in der jüngeren Vergangenheit immer noch Schleier des Schweigens und Gesten des Wegwischens dominierten. Etwa auf die Selbstverständlichkeit von Karl-Lueger-Platz und Karl-Lueger-Denkmal, auf die Rolle Österreichs im Nationalsozialismus oder den Umgang heutiger junger Menschen mit der Vergangenheit.

Gerade die aktuellen Diskussionen um nationalsozialistisches Liedgut, fragwürdige ideologische Zugehörigkeiten und unklare Abgrenzungen seien ein steter Beweis für die unbedingte Notwendigkeit, zurückzublicken. Bober tut das in einer sehr dichten, sehr persönlichen und sehr poetischen Collage. So erzählt "Wien vor der Nacht" exemplarisch eine von vielen jüdischen Familiengeschichten, die längst noch nicht auserzählt sind.

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