Weinende Frau, Graffiti

ORF/JOSEPH SCHIMMER

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Vom guten und vom schlechten Gewissen

Das "schlechte Gewissen" ist besser als sein Ruf: Schuldgefühle sind zwar nie angenehm, aber wie körperliche Schmerzen können sie auf ein echtes Problem aufmerksam machen. Das "schlechte Gewissen" kann also - richtig verstanden - der Wegweiser zu einem besseren Leben sein.

Ein "reines Gewissen", so sagt der Volksmund, ist ein sanftes Ruhekissen. Aber man muss es sich ehrlich verdient haben, mahnt der Psychiater und Psychotherapeut Rafael Bonelli. Im menschlichen Alltag ist eher das "schlechte Gewissen" der Normalfall.

"Wirklich gefährlich sind Menschen, die nie Schuldgefühle haben."

Jeder Mensch macht gelegentlich etwas falsch. "In den meisten Fällen, in den gesunden Fällen sind Schuldgefühle begründet. Also der Normalfall des Menschen ist, dass man Schuldgefühle hat, weil man Schuld auf sich geladen hat", betont Rafael Bonelli: "So richtig krank sind nicht die Leute, die Schuldgefühle haben - sondern wirklich gefährlich sind Menschen, die nie Schuldgefühle haben."

Die Wochen vor Ostern nutzen viele für die "Gewissenserforschung" - und dafür ist die "Fastenzeit" (evangelisch "Passionszeit" genannt) auch gedacht. Mit dem "Aschermittwoch" hat sie begonnen, und katholische Christinnen und Christen sind gehalten, wenigstens einmal pro Jahr - vor Ostern - zur Beichte zu gehen.

"Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich die gleichen Fehler machen."

Besungen wurde das "schlechte Gewissen" noch nie - im Gegenteil: Edith Piaf ist bis heute für ihr trotziges Bekenntnis berühmt: "Je ne regrette rien". Und Frank Sinatra bekennt sich in "My Way" stolz dazu, stets nur sich selbst zum Maßstab genommen zu haben.

Das mag ein wenig kokett sein - wie das berühmte Zitat von Marlene Dietrich: "Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich die gleichen Fehler machen. Aber ein bisschen früher, damit ich mehr davon habe." Da wird die Schuld nicht unbedingt verdrängt - es fehlt bloß die Reue.

"Schuld sind immer die Anderen."

Viele Menschen können gar nicht mehr erkennen, wo sie unrecht begangen haben. Damit können sie aber auch ihr Leben nicht ändern, sagt der Psychotherapeut Raphael Bonelli. Und eine Paartherapie wird überhaupt unmöglich, wenn immer der/die andere Schuld an allem ist. Selbsterkenntnis wäre, auch das sagt der Volksmund, der erste Schritt zur Besserung. Aber immer mehr Menschen sehen nur noch den Splitter im Auge des anderen (um aus der Bibel zu zitieren) und nicht mehr den Balken im eigenen.

Heutzutage wird Schuld verdrängt, so Bonelli, wie einst in den Tagen Sigmund Freuds die Sexualität. Den Grund dafür sieht Bonelli in der Geisteshaltung des "Perfektionismus": Die Menschen halten sich gern für makellos, sie wollen sich als "vollkommen" präsentierten - und alles, was dieses Selbstbild trüben könnte, wird ausgeblendet.

Was vielen Menschen heute fehlt, dafür hat Rafael Bonelli einen eigenen Begriff erfunden: "Imperfektionstoleranz" - die eigene Unvollkommenheit wieder ertragen lernen.

"Wir können nicht mit sauberen Händen und weißen Westen durch dieses Leben gehen."

Kein Mensch kommt durchs Leben ohne einmal etwas falsch zu machen, sagt der evangelische Theologe und Bischof Michael Bünker: "Theodor Adorno sagt: Es gibt kein wahres Leben im falschen. Von daher muss man sich von der Vorstellung verabschieden, wir könnten völlig unschuldig, mit sauberen Händen und weißen Westen durch dieses Leben gehen. Das können wir nicht."

Das sei letztlich auch mit dem umstrittenen theologischen Begriff der "Erbsünde" gemeint: Der Menschen wird in eine Welt hineingeboren, in der er gar nicht anders kann, als zu sündigen. Die "heile Welt" bleibt eben nur ein Traum.

"Das schlechte Gewissen gibt es auch in anderen Religionen."

Das "schlechte Gewissen" ist aber, so Bischof Michael Bünker, keineswegs eine Erfindung des Christentums. Und das Gewissen an sich erst recht nicht. Schon in der Antike erscheine es in Gestalt der Erinnyen bei Eurypides - oder als "innere Stimme" bei Sokrates, die sein Verhalten beurteilt: "Das alles weist daraufhin: Das schlechte Gewissen ist offenbar etwas Menschliches, auch vor-christliches. Und es gibt das schlechte Gewissen auch in anderen Religionen."

Das Gewissen ist also ein allgemein menschliches Phänomen. Trotzdem hängt daran ein Stück "Schuldgeschichte" des Christentums, denn in den Kirchen wurde und wird den Menschen mitunter auch bewusst ein schlechtes Gewissen gemacht - etwa im Bereich der Sexualität. Das gute Gewissen mag ein sanftes Ruhekissen sein, ein schlechtes Gewissen lässt sich wunderbar instrumentalisieren.

Persönliche Schuld muss klein geredet, verniedlicht - oder zur Krankheit erklärt werden.

Wenn niemand mehr einen Fehler eingestehen kann oder gar bereuen will, dann muss persönliche Schuld überhaupt weg-argumentiert werden, dann müssen die sozialen Verhältnisse, die Erziehung, die Gene oder eine Krankheit die Verantwortung übernehmen, so der Arzt und Psychotherapeut Raphael Bonelli.

Persönliche Schuld muss also klein geredet, verniedlicht - oder zur Krankheit erklärt werden: "Aber wir sind über die Phase schon ein wenig hinaus. Zum Beispiel beim Pädophilen wird niemand mehr sagen: Naja - du empfindest halt so, jeder empfindet irgendwie … das führt sich selbst ab absurdum. Das ist ein Missverständnis von der menschlichen Seele."

Die Pathologisierung oder Bagatellisierung von Schuld sei letztlich auf Sigmund Freud zurückzuführen: "Ich bin ein großer Fan von Freud, aber das hat er einfach falsch gesehen." Für Freud ist der Mensch im Grunde völlig unfrei. "Freud sieht den Menschen in der Zwickmühle zwischen dem "Es" und dem "Über-Ich". Das "Es" sind die eigenen Triebe - und das "Über-Ich" sind die "bösen Regeln der Gesellschaft" - und dazwischen ist das Arme "Ich" eingespannt und kann sich nicht bewegen oder wehren. "Und deshalb gebe es bei Freud keine Schuld, so Rafael Bonelli, "sondern nur Schuldgefühle."

Wer Schuldgefühle einfach vom Tisch wischt, raubt dem Menschen auch die Freiheit.

Und daher komme auch der Reflex mancher Therapeuten, so Bonelli, zu sagen: "Ah - Schuldgefühle? Kein Problem. Das kriegen wir auch noch in den Griff." Wer Schuldgefühle einfach vom Tisch wischt (mit Sätzen wie "Du konntest doch gar nichts dafür" oder "Das darf man ruhig heutzutage"), raubt dem Menschen auch die Freiheit. Schuldgefühle sollten daher auch in der Psychotherapie sehr ernst genommen und überprüft werden, ob vielleicht tatsächlich Schuld dahinter steckt.

Gestaltung

  • Markus Veinfurter