Blaue Stunde: Mann sitzt auf einer Parkbank

APA/DPA/FELIX KÄSTLE

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Gewissen - ein allgemein menschliches Phänomen

Das Gewissen begleitet uns ständig, auch wenn wir es meist nicht ausdrücklich merken.

Wenn wir vor einer schwierigen wichtigen Entscheidung stehen, dann ist es oft so, wie wenn verschiedene Stimmen in uns um die eigene Wahrheit ringen. Da gibt es - bildlich gesprochen - den Ankläger, den Verteidiger und den Richter. Sie ringen um ein stimmiges, der jeweiligen Situation entsprechendes Urteil beziehungsweise Entscheidung.

Das Gewissen ist das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen. - Immanuel Kant

Das was der große Philosoph Kant vor 250 Jahren hier formuliert, gehört zum unverrückbaren kulturellen Wissensbestand. Möchte man meinen. Aber selbst im Land der großen Dichter und Denker gab es Zeiten, wo man das Gewissen offiziell am liebsten abgeschafft hätte. Und das ist noch gar nicht so lange her, wenn man an den sogenannten Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland 1938 denkt.

Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung, eine Verstümmelung des menschlichen Wesens. Ich befreie den Menschen von der schmutzigen und erniedrigenden Selbstpeinigung. - Adolf Hitler

Das ist keine sogenannte Nazikeule. Sondern das heilsame Erschrecken über solche Sentenzen kann uns davor bewahren das Gewissen zu banalisieren. Es kann als Weckruf dienen, darüber heute scharf nachzudenken. Fangen wir also damit an:

Die Stimme der Vernunft ist leise. Das Unbewusste ist viel moralischer, als das Bewusste wahrhaben will. - Sigmund Freud

Wie Spüre ich diese Stimme der Vernunft? Wie macht sich das Gewissen überhaupt bemerkbar? Zunächst einmal hat das Gewissen eine rückblickende Funktion. Es beurteilt Handlungen oder Unterlassungen, nachdem sie geschehen sind.

Andererseits stehen wir täglich vor Entscheidungen: Soll ich dieses oder jenes tun? Und hier erfüllt das Gewissen eine vorausschauende Funktion. Das Gewissen fungiert also wie ein Kompass, der mir die Richtung weist, ob ich in Übereinstimmung handle mit dem, wer ich bin, wer ich sein möchte und ob es auch stimmig ist mit meiner Lebenssituation

Das sogenannte böse Gewissen sollte eigentlich das gute heißen, weil's ehrlich die Wahrheit sagt. - Wilhelm Busch

Manche postmodernen Denker halten das Gewissen für ein gesellschaftliches Konstrukt, also für ein sozial und zeitlich gebundenes Wertesystem. Wäre dem tatsächlich so, dann wäre das Gewissen nur etwas Relatives und nicht absolut verbindlich. Doch das Gewissen ist weit mehr und das ist keine subjektive Behauptung. Hier reicht die wachsame Selbstbeobachtung, also eine Achtsamkeit in Bezug auf das eigene Dasein.

Das Gewissen ist also nicht nur ein ethischer Anspruch das Gute zu tun, sondern es ruft mich auf in die eigene Wahrheit zu wachsen. Im Alltag erfahre ich aber auch einen Sog, der mich wegdrängt von mir und wo ich vor bestimmten Entscheidungen ausweichen möchte. Hier ruft mich das Gewissen zurück mit seiner stillen Stimme der Vernunft - wie Freud es nennt - es ruft mich zurück eigentlich selbst zu sein.

Gewissen heißt auf Griechisch "Synteresis" und lateinisch "Con-scientia". Beide Wortwurzeln bedeuten übersetzt ein "Mit-Wissen" bzw. "Zusammmen-Wissen". Damit ist gemeint: Wir verstehen uns mit anderen gemeinsam auf die Dinge unserer Lebenswelt. Wir wissen es also zusammen.

Alles, was gegen das Gewissen geschieht, ist Sünde. - Thomas von Aquin

Beim Gewissen lassen sich mehrere Dimensionen unterscheiden. Zum einen ist das Gewissen ein Kompass für die eigene Identität, der mir hilft zu dem Menschen zu wachsen, der ich selber werden kann. Damit ist das Gewissen zugleich auch eine ethische Instanz: Sie zeigt mir in bestimmten Situationen an, dass eine Handlung richtig ist und von mir getan werden will, oder es warnt vor einer Handlung im Sinne von: Das lass lieber sein. Wenn du das tust, wirst du dem anderen oder Dir selbst nicht gerecht.

Wer sich an Gebote und Verbote, Regeln und Gesetze hält, der handelt zweifellos ethisch regeltreu und gesetzeskonform. Aber ist er deshalb schon ein gewissenhafter moralischer Mensch? Nicht unbedingt. Es kommt auf das Motiv an. Denn man könnte sich ja nur deshalb an Gebote, Verbote und Gesetze halten, weil man beispielsweise eine Strafe oder andere Nachteile fürchtet. Authentisch moralisch handelt eigentlich nur der, der das Richtige um seiner selbst willen tut. Gewissenhaft handelt der, der das Gute tut, weil es gut ist und nicht weil es ihm einen Nachteil erspart, oder einen Vorteil bringt.

Sein Gewissen war rein, er benutzte es nie. - Stanislaw Jerzy Lec

Die Aufgabe sein Gewissen zu bilden ist heute weit anspruchsvoller als in früheren Jahrhunderten. Denn viele Entscheidungen verlangen eine detaillierte Sachkenntnis und die Berücksichtigung verschiedener Blickwinkel und Situationen, damit man der zu entscheidenden Sache einigermaßen gerecht wird.

Man kann sogar von einem Zwang zur Gewissensentscheidung sprechen, der als logische Konsequenz aus der pluralistischen offenen Gesellschaft folgt. Denn der postmoderne Mensch hat es mit einer Vielfalt an Moralen zu tun. Unter diesen muss das Gewissen auswählen auch mit dem Risiko von diesem Zwang zur Auswahl überfordert zu sein.
Das Phänomen des Gewissens als Anspruch ist transkulturell, ist universal. Doch inhaltlich ist das gewissen von der jeweiligen Kultur geprägt. Es kann deshalb bei gleicher Fragestellung zu ganz unterschiedlichen Schlüssen kommen.