Ausschnitt Buchcover, Buchstaben

MATTHES & SEITZ VERLAG

Ex libris

"Dunkle Zahlen" von Matthias Senkel

Ein akribisch recherchierter Roman rund um Kybernetik, propagierten Fortschritt und Sowjetkommunismus.

In diesem Buch wird gegähnt und geschnauft, gesurrt, gerattert und gerauscht - und hin und wieder, da knacken auch die Magnetbänder des KGB. In Matthias Senkels "Dunkle Zahlen" ist eines sicher: Leise geht es bestimmt nicht zu - und auch garantiert nicht störungsfrei. Der Inhalt dieses ebenso raffinierten wie eigenartigen Romans: eine sowjetische Geschichte der Computer und ihrer Vorläufer, der Rechenmaschinen. Bei einer solchen Rechenmaschine, nämlich der "Golemartigen Literaturmaschine", kurz GLM genannt, fängt dieses abenteuerliche Unterfangen auch an:

Sowie ich den Hauptschalter umlege, leuchtet der Anzeigeschirm der GLM auf. "Los, sagt mir mal zwei schöne große Zahlen." (Das bin ich, der das fordert.) Warum die Annuschki daraufhin kichern, wisse, wer kann. Na, immerhin diktieren sie brav: "Achtzehn" und "Zwanzig". Zack, zack, gebe ich ihre Zahlen ein und tippe, zack, zack, noch ein paar dazu, denn dann läuft die GLM heißer - so viel verstehe ich immerhin von den wundersamen Werken unserer Altvorderen.

Der Literaturmaschine gehört die Autorenzeile dieses Buchs. Der "kadettenblaue" Blechautomat aus den 60er Jahren, so steht es auf dem Titelblatt, soll das folgende "Poem" verfasst haben, und Senkel, der ist angeblich nur der Übersetzer. Ein folgenreicher Kunstgriff: Die Maschine widersetzt sich nämlich dem konventionellen Roman, spuckt mehrere immer wieder aufgenommene Handlungsstränge aus und hat, ganz wie es einem russischen Literaturautomaten gebührt, gleich 63 wiederkehrenden Figuren im Gepäck und dafür auch ein eigenes Glossar. Wohlgemerkt steht dieses schon auf Seite 300 von insgesamt knapp 500 Seiten. Ebenso verfrüht: das Nachwort und ein Abkürzungsschlüssel. Und mittendrin ein Witzearchiv, Fotografien und ein Kreuzworträtsel.

Buchcover

MATTHES & SEITZ VERLAG

Ein Romanlabyrinth

Man sieht, schon allein in Formatfragen geht es wild zu in diesem Romanlabyrinth. Fünf Jahre hat der 1977 geborene Autor, der 2012 seinen Debütroman "Frühe Vögel" veröffentlichte, dafür recherchiert. Das Resultat, "Dunkle Zahlen", brachte ihn auf die Shortlist der Leipziger Buchmesse. Und das durchaus zu Recht: Denn aus diesem akribisch recherchierten Roman rund um Kybernetik, propagiertem Fortschritt und Sowjetkommunismus sprudeln die verrücktesten Einfälle, ironischen Anspielungen und ausgefinkelten Details nur so heraus.

Einer "vereinfachenden Nacherzählung" entziehe sich das Buch, heißt es einmal in "Dunkle Zahlen" - und dasselbe gilt auch für Senkels Text. Einige Eckdaten lassen sich aber dennoch festmachen: Die Geschichte spielt im Zeitraum von 1821 bis 2043, vor allem aber am Vorabend des Zerfalls der Sowjetunion, als das Wettrüsten nicht nur militärisch und kosmonautisch, sondern auch in der Technik aufs Heftigste ausgetragen wurde. Wo man alles daran setzte, "thermonukleare Prozesse" oder "orbitale Kupplungsmanöver" zu berechnen, "Geheimcodes zu entschlüsseln, Sternenspektren und staatsfeindliche Witze zu analysieren, das materielle und kulturelle Lebensniveau der Sowjetbevölkerung sowie das daraus resultierende Plan-Soll für Gummilitze und Hegel-Handbücher zu bestimmen."

Kybernetische Sportsgeister

Um noch konkreter zu werden: Ein wichtiger Handlungsstrang dieses Buchs ist die Geschichte rund um die Internationale Programmierer-Spartakiade von 1985, zu der sich die Jugend der sozialistischen Länder im Hotel Kosmos in Moskau versammelt hat. Dort findet jedoch kein harmloses Kräftemessen statt. Denn flankiert werden die kybernetischen Sportsgeister nicht nur von Trainern und Betreuern, sondern auch vom KGB, der die ertüftelten Ergebnisse militärisch nutzen will.

In siebeneinhalb Stunden würde Dmitri Sowakow ans Mikrofon treten und die zweite Internationale Spartakiade der jungen Programmierer eröffnen. Noch aber stand der Vorsitzende des Spartakiadekomitees auf der Schwelle eines zweckentfremdeten Hotelzimmers. Auf dem Flur surrten Dutzende Bandmaschinen. Bei den Aufzügen sammelten sich Sondereinsatzkräfte in Zivil, Männer und Frauen in gepflegter Garderobe, in Arbeitskluft, in Volkstracht. Abhörtechniker bereiteten sich auf den Schichtwechsel vor, zogen bequeme Schlappen an. Von hier oben also würde Jewhenija Swetljatschenko ihren einwöchigen Spezialeinsatz koordinieren. Sie hatte den Pausenraum der Abhöreinheit Kosmos ganz auf ihre Bedürfnisse anpassen lassen.

"Dunkle Zahlen", das ist ein grandios fantasievolles Buch und es ist außerdem, in der Verwendung von Sozio- und Dialekten, im Bedienen literarischer Genres und seinen Referenzen auf James Joyce, Robert Musil oder die russische Literatur, ein beeindruckendes Stück Literatur. Aber auch ein überbordendes, immer wieder über die Stränge schlagendes, sodass man zwischendurch nicht mehr weiß, worum es gerade geht - und sich bewusst wird, dass man vielleicht nur die Hälfte an Anspielungen verstanden hat. Letztlich, so kann man sagen, ist „Dunkle Zahlen“ ein Buch für Nerds, vielleicht für Sowjet-Begeisterte - in jedem Fall für alle, die Lust auf derlei wilde Experimente haben.

Service

Matthias Senkel, "Dunkle Zahlen", Verlag Matthes & Seitz

Übersicht