Gedanken für den Tag

"Der Mensch kann immer freier und freier werden". Zum 150. Geburtstag Rudolf Steiners. Von Leonhard Weiss

Leonhard Weiss ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am "Zentrum für Kultur und Pädagogik" in Wien und Lehrer an der Rudolf Steiner Landschule Schönau an der Triesting.

In seinem philosophischen Hauptwerk "Die Philosophie der Freiheit" formulierte der vor 150 Jahren geborene Rudolf Steiner eine "Grundmaxime der freien Menschen": "Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens". Die Entwicklung und Entfaltung eigener, individueller Handlungsimpulse und die Anerkennung der Impulse der anderen - diese beiden Motive prägten Steiners Denken.

Heute ist Rudolf Steiner vor allem als Begründer der Waldorfpädagogik bekannt - jener Pädagogik, die sich darum bemüht, Kindern und Jugendlichen Raum und Möglichkeit zur Entwicklung ihrer Individualität zu bieten - doch Steiners vielfältige Ideen und Überlegungen beeinflussten Künstler wie Wassily Kandinsky und Joseph Beuys ebenso, wie sie zur Entwicklung neuer Ansätze in den Bereichen Medizin und Landwirtschaft führten. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Waldorfschule und "Leistung"

"Waldorfschule? Ah, ihr könnt nicht sitzen bleiben."

Wenn ich als Kind erklärte, welche Schule ich besuchte, war das oft die Reaktion.
Manchmal kamen noch Zusätze wie "Cool, dann müsst ihr ja nichts lernen".
 
Die Ablehnung von Klassenwiederholungen und der damit teilweise verbundene Verzicht auf Notenzeugnisse gehören zu den bekanntesten Besonderheiten der Waldorfschulen. Verlangen diese also keine "Leistung", weil jeder "durchkommt"? Sind Waldorfschüler damit aber nicht schlechter vorbereitet auf die "Welt draußen", in der Leistungsdruck doch immer wichtiger wird? Fragen, die mich bereits als Jugendlicher beschäftigten.
 
Damals kam ich zu einer persönlichen Antwort: Ich entschied mich, die Waldorfschule zu verlassen, weil ich mich nicht mehr ausreichend "gefordert" fühlte. Dass sich dies danach im Gymnasium nicht wirklich änderte, relativierte meine jugendliche Kritik an der Waldorfschule übrigens recht schnell. Zu denken gab mir vor allem aber der Satz eines Lehrers, von dem ich mich verabschiedete: "Gefordert ist man so viel, wie man sich selber fordert."

Tatsächlich liegt darin, wie mir scheint, ein Grundprinzip der Waldorfpädagogik: Schüler dazu zu bringen, sich selbst Ziele und Herausforderungen zu setzen. Mit dem Abstand von 14 Jahren könnte ich daher sagen, die Entscheidung, die Waldorfschule zu verlassen, war vielleicht sogar das Ergebnis der dort gelebten Pädagogik. Denn der Wechsel ins Gymnasium erschien mir damals als Herausforderung.
 
Heute ist für mich gerade der Verzicht auf Benotung Ausdruck eines besonderen Leistungsverständnisses: Einer Schülerin fällt Mathematik leicht, ihre Rechnungen sind einfach fehlerfrei. Eine andere übt stundenlang - und verrechnet sich doch immer wieder. Wer hat aber mehr "geleistet"?

Ziel verbaler Zeugnisse ist es, nicht nur auf Ergebnisse, sondern auch auf Prozesse zu schauen. Und weil solche Prozesse nicht mit dem Schuljahr aufhören, versuchen Waldorflehrer und -lehrerinnen in Zeugnissen auch darauf einzugehen, wo sich Schülerinnen und Schüler weiterentwickeln, neue Herausforderungen finden, ihre Leistungsfähigkeit erweitern könnten. Kein leicht zu erfüllender Anspruch. Rudolf Steiner gab Lehrern der ersten Waldorfschule daher einmal einen Rat: Zeugnisse sollten von Liebe getragen sein. Und zwar, wie ich denke, nicht weil Liebe "blind" für Schwächen macht, sondern weil sie "Augen öffnet" für Besonderheiten und Stärken eines Menschen.

Service

150 Jahre Rudolf steiner 2011

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Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

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