Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Ich bin ein Mystiker und ich glaube an nichts" - zum 100. Geburtstag des rumänisch-französischen Denkers E. M. Cioran

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

E. M. Cioran (geboren 1911 in Rasinari bei Hermannstadt, gestorben 1995 in Paris) war ein kompromissloser Selbst-Denker und stellt in seinen Aphorismen und Kurzessays weltanschauliche und religiöse Gewissheiten radikal in Frage. Gleichzeitig hat sich dieser Skeptiker ein Leben lang mit ekstatischen Mystikern, Heiligen und außenseiterischen religiösen Traditionen beschäftigt und formuliert: "Es leuchtet ein, dass Gott eine Lösung war und dass man nie wieder eine ebenso befriedigende finden wird."

Große Formulierungskraft und die Lust an paradoxer Zuspitzung machen Cioran zu einem unvergesslichen Lese-Abenteuer - gerade auch in Sachen Religion. In den persönlichen Begegnungen war der bekennende Menschenfeind und radikale Weltverneiner ein offener Gesprächspartner mit großem Charme.

Der 72-jährige Denker, ein berühmter Außenseiter, und ein 27-Jähriger, der seine Diplomarbeit über ihn geschrieben hatte, die demnächst als Buch erscheinen würde - die erste Begegnung war nicht ganz einfach, denn der 27-Jährige glaubte, zum Werk des Denkers viele kluge Fragen zu haben, doch der Denker konnte nichts ausstehen, was ihm nach Universität und akademischer Arbeit roch. Aber er war offen und freundlich gegenüber dem jungen Mann und spielte ihm die Musik vor, die ihn gerade in Atem hielt: Domenico Scarlatti, interpretiert von Glenn Gould. Die Begegnung fand in Paris statt, der Denker war Cioran und der junge Mann war ich - vor 27 Jahren, am 16. Februar 1984.
E. M. Cioran, der französische Denker rumänischer Herkunft, der seine beiden Vornamen nicht ausstehen konnte und immer nur mit den Initialen abkürzte, war erst gegen Ende meines Theologie- und Germanistikstudiums in mein Blickfeld gekommen. Von Anfang an war es eine Mischung aus Irritation und Faszination. Irritation, weil Cioran etliche meiner Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten unterminiert hat, weil er gegen jede philosophische, religiöse oder politische Überzeugung das Irritierende an Welt und Geschichte mobilisiert. Irritation aber auch, weil Cioran zum Widerspruch zwingt. Vor allem jugendliche Begeisterung für den rumänischen Faschismus und für Hitler ist unannehmbar.
Ciorans Faszination liegt in der radikalen Subjektivität, im Häretischen seines Ansatzes; für jemanden wie mich, der sich am Katholizismus seiner Herkunft abarbeiten musste, waren Ciorans Häresien produktiv. Was mich noch immer an ihm fasziniert, ist die provokative Ironie, vor allem also der Stil Ciorans; und Stil ist bei ihm auch Teil des Inhaltes. Immer wieder hat Cioran auch über Stil reflektiert; einmal schreibt er: "Mit Gewißheiten kann man keinen Stil machen. Die Sorgfalt des sprachlichen Ausdrucks ist das Privileg jener Menschen, die in keinem Glauben Ruhe finden." Diese Formel liebe ich noch immer: "In keinem Glauben Ruhe finden." Für mich ist das ein Motor des Nachdenkens und eine Schule des Blicks auf das, was rund um mich geschieht.

Service

Bücher von E. M. Cioran
E. M. Cioran, Werke. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Aus dem Französischen von François Bondy, Paul Celan, Verena von der Heyden-Rynsch, Kurt Leonhard und Bernd Mattheus. Suhrkamp Quarto 2085. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008

Einzelne Werke sind in den Verlagen Suhrkamp und Klett-Cotta erschienen; die "Syllogismen der Bitterkeit" sind derzeit nicht als Einzelausgabe lieferbar.

Nicht in der Werkausgabe enthalten sind folgende Schriften:

E. M. Cioran: Cahiers 1957-1972. Ausgewählt und aus dem Französischen von Verena von der Heyden-Rynsch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001

E. M. Cioran: Aufzeichnungen aus Talamanca. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort vom Verena von der Heyden-Rynsch. Weissbooks, Frankfurt am Main 2008

E. M. Cioran: Über Frankreich. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010

E. M. Cioran: Über Deutschland. Aufsätze aus den Jahren 1931-1937. Herausgegeben, aus dem Rumänischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011


Bücher über E. M. Cioran
Cornelius Hell: Skepsis, Mystik und Dualismus. Eine Einführung in das Werk E. M. Ciorans.
Bouvier Verlag, Bonn 1985 (=Studien zur französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Band 11) Nicht mehr lieferbar

Patrice Bollon: Cioran, der Ketzer. Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006

Silvana Lindner: Mystik des Nihilismus? Auseinandersetzung mit Emil Ciorans Werk aus systematisch-theologischer Perspektive orthodoxer Prägung. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2006

Franz Winter: Emil Cioran und die Religionen. Eine interkulturelle Perspektive. Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2007

Bernd Mattheus: Cioran. Portrait eines radikalen Skeptikers. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007


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Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110404 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

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