Gedanken für den Tag

von Klara Obermüller. "Man möchte gehört werden" - zum 100. Geburtstag von Max Frisch

Klara Obermüller ist Schweizer Journalistin, Schriftstellerin und Fernsehmoderatorin.

Mit Theaterstücken wie "Biedermann und die Brandstifter" oder "Andorra" sowie mit seinen drei großen Romanen "Stiller", "Homo faber" und "Mein Name sei Gantenbein" erreichte der Schweizer Schriftsteller und Architekt Max Frisch ein breites Publikum und fand Eingang in den Schulkanon. Die Auseinandersetzung mit sich selbst steht im Zentrum von Frischs Werk und deutet doch über das eigene Selbst hinaus. Viele der dabei aufgeworfenen Probleme können als typisch für den postmodernen Menschen gelten: Finden und Behaupten einer eigenen Identität in Auseinandersetzung mit den festgefügten Bildern anderer, Geschlechterrollen und ihre Auflösung sowie die Frage, was mit Sprache überhaupt ausgedrückt werden kann und was im letzten "unsagbar" bleibt.

Die Schweizer Journalistin Klara Obermüller arbeitete unter anderem im Feuilleton der NZZ, der Weltwoche und der FAZ sowie bei der Kunst- und Kulturzeitschrift "du". Sie war Mitglied des Literarischen Quartetts und arbeitete als Moderatorin beim Schweizer Fernsehen in der Sendung "Sternstunde Philosophie". Heute ist sie als freie Publizistin, Moderatorin und Referentin tätig. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

"Alle Geschichten sind erfunden, Spiele der Einbildung, Entwürfe der Erfahrung, Bilder wahr nur als Bilder. Jeder Mensch, nicht nur der Dichter, erfindet sich seine Geschichte - nur dass er sie, im Gegensatz zum Dichter, für sein Leben hält." (Max Frisch: "Unsere Gier nach Geschichten")
 
Wenn man älter wird und auf sein Leben zurückschaut, stellt man fest, dass manches anders gekommen ist als erwartet - und vielleicht auch, dass man dieses oder jenes gerne anders gemacht hätte. Doch das geht nicht. Das Leben ist, wie es ist. Es kann nichts hinzugefügt, nichts ungeschehen gemacht werden. Ich muss es annehmen, wie ich mich annehmen muss mit allem, was dazu gehört. Das ist nicht immer einfach und manchmal sogar schmerzlich. Max Frisch fiel diese Akzeptanz besonders schwer, weil ihm alles Endgültige zuwider war und er nicht einsehen wollte, warum etwas Sinn machen sollte, nur weil es sich so und nicht anders ereignet hatte. Also floh er in die Geschichten, in die Erfindung und probierte dort Identitäten und Biographien aus, die nicht die seinen waren. Man nennt das dichterische Freiheit. Aber tun wir das nicht alle bis zu einem gewissen Grad, wenn wir unser Leben erzählen: Eine Geschichte erfinden? Will heißen: Da einiges weglassen, da etwas zurechtbiegen, da eine Kleinigkeit hinzufügen, bis die Geschichte rund ist und eine innere Logik an den Tag legt, die ihr im Grunde genommen nicht zukommt? Daten und Fakten stimmen zwar, am Wahrheitsgehalt ist nicht zu zweifeln, und doch geben wir rückblickend als unser Leben aus, was, bei Lichte besehen, eine Legende ist. Das hat nichts mit Lügen zu tun, sagt Max Frisch. Denn jede Geschichte ist eine Erfindung und entspringt letztlich dem Bedürfnis, Herr über die eigene Identität und die eigene Lebensgeschichte zu bleiben.

Service

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Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110512 Gedanken für den Tag / Klara Obermüller
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

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