Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Das Zeugnis der Poesie" - zum 100. Geburtstag des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz

Cornelius Hell ist Literaturkritiker.

Poet in Vilnius und Aktivist im Warschauer Untergrund, Diplomat des kommunistischen Polen und Dissident, der die Rolle der Intellektuellen in der Diktatur analysierte, amerikanischer Literaturprofessor und polnischer Romanautor im Exil - das alles war Czeslaw Milosz in seinem langen Leben, bevor er 1980 den Literaturnobelpreis erhielt. Und er war deklarierter Katholik, aber ein sehr skeptischer und eigenwilliger, der an seinen Widersprüchen und der Widersprüchlichkeit der Welt festhielt: "Es geht über meine Kräfte, die Welt als normal zu betrachten."
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

"Was im Namen von Kreuz und Schwert geschah, bleibt unsere Schuld." Dieser Satz, den der polnische Schriftsteller Czeslaw Milosz in seinem Buch "Hündchen am Wegesrand" geschrieben hat, ist mir wichtig. Solange man sich als Christ, als Christin versteht, ist man verantwortlich für das, was im Namen des Christentums geschehen ist und geschieht. Oder genereller gesagt: Am wichtigsten ist die Kritik im eigenen Haus - die "Tapferkeit vor dem Freund", um es mit dem Bruchstück aus einem Gedicht von Ingeborg Bachmann zu sagen. Auch wenn das oft als Illoyalität verstanden wird.

Milosz beginnt seinen Text mit folgendem Satz: "Dafür bin ich dankbar: daß ich damals, vor langer Zeit, in einem hölzernen Gotteshaus unter mächtigen Eichen in die römisch-katholische Kirche aufgenommen worden bin." Trotzdem war er ein unbequemer Katholik, einer, der nach dem Zweiten Weltkrieg nicht im rechten, nationalen Lager zu finden war. Seine Analysen des polnischen Katholizismus sind immer noch lesenswert - etwa wenn man sich mit dem Milieu auseinandersetzt, aus dem Papst Johannes Paul II. stammte. "Wo sich die nationale von der religiösen Überlieferung nicht scheiden läßt, verwandelt sich die Religion in eine gesellschaftliche, konservative und konformistische Macht", kann man bei Milosz lesen.

Aber seine Kritik am Christentum ist genereller und greift tiefer. Ihm war der breite Strom des quasi offiziellen Christentums zu glatt - lieber setzte er auf ketzerische Traditionen wie Gnostiker, Manichäer und Albigenser, die die Welt nicht einfach als Schöpfung eines guten Gottes sahen. Gegen die konventionelle Verharmlosung des Kreuzes protestierte er mit sehr bedenkenswerten Sätzen: "Die Tatsache, daß das Kreuz zu einer Abstraktion geworden war, brachte es mit sich, daß auch die Realität der sehr wohl konkreten Körper an den Galgen und in den Gaskammern verdrängt wurde, damit man bloß nicht zugeben mußte, daß die Religion eines gekreuzigten Gottes die Religion eines kosmischen Schmerzes sei."

Service

Bücher von Czeslaw Milosz
Erhältlich:
Die Straßen von Wilna. Aus dem Polnischen vom Roswitha Matwin-Buschmann. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2005
Visionen an der Bucht von San Francisco. Amerikanische Essays. Aus dem Polnischen vom Sven Sellmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008

Vergriffen:
Gedichte. Aus dem Polnischen übertragen von Karl Dedecius und Jeannine ?uczak-Wild und mit einem Nachwort von Aleksander Fiut. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1992 (=Bibliothek Suhrkamp 1090)
Zeichen im Dunkel. Poesie und Poetik. Hrsg. von Karl Dedecius. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980 (=edition suhrkamp 995)
Verführtes Denken. Mit einem Vorwort von Karl Jaspers. Deutsch von Alfred Loepfe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980 (=suhrkamp taschenbuch 278)
Das Zeugnis der Poesie. Aus dem Polnischen von Peter Lachmann. Carl Hanser Verlag, München-Wien 1984
Hünchen am Wegesrand. Aus dem Polnischen und Englischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2000
Mein ABC. Von Adam und Eve bis Zentrum und Peripherie. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2011-06-17
Tal der Issa. Roman. Deutsch von Maryla Reifenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1980 (= dtv 10077)
West und Östliches Gelände. Deutsch von Maryla Reifenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1986 (= dtv 10583)

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Playlist

Titel: GFT 110701 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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