Gedanken für den Tag

4. Juli 2011, 06:56

Der Himmel ist der Himmel - was sonst? - mit Wolkentupfern drauf. Wenn man aber Philosoph ist, kann es durchaus vorkommen, dass man am Frühstückstisch - mit Blick auf den Himmel - beginnt, über die "Transzendenz des Ego" nachzudenken. Oder beim Warten auf Frau und Tochter vor einem Modegeschäft beim samstäglichen Einkaufsbummel taucht plötzlich die Frage nach Sein oder Nichts auf.

Peter Strasser ist Professor am Institut für Rechtsphilosophie der Karl-Franzens-Universität in Graz und beschäftigt sich in seiner Arbeit unter anderem mit den philosophischen Grundlagen der Kriminologie und der praktischen Ethik sowie der Religionsphilosophie. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Warum ich hoffen darf
Es gibt solche Tage. In der Nacht hat ein Wind die Stadt blank gefegt, und nun, am Morgen, steht der Himmel blau im Fenster. Der Himmel ist der Himmel - was sonst? - mit Wolkentupfern drauf. Ich aber sitze am Frühstückstisch und denke an die Transzendenz des Ego. Die Folge: Morgengrausen.
Später am Tag: Vorlesung zur "Transzendenz des Ego". Hinterher kommt eine Studentin in meine Sprechstunde und schaut mich herausfordernd an. Sie habe, sagt sie, kein Ego, daher habe sie auch nichts, was transzendent sein könnte. Sie ist da, sagt sie, einfach da, und dabei ist sie - "Entschuldigen Sie die Störung" - schon wieder draußen bei der Tür. Komisch.
Ich bleibe zurück. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, kein Ich zu haben, doch wenn ich darüber nachdenke, ob ich eines habe, dann weiß ich nicht einmal, worüber ich nachdenke. Es klopft, ein Seniorenstudent stürmt herein, er hält mir Sartres "Transzendenz des Ego" entgegen. Jetzt, sagt er, wisse er, dass er ein Ego habe und transzendent sei. Ich sage sofort: "Herzlichen Glückwunsch!"
Dann, spätabends im Fernsehen, eine philosophierende Runde. Unter den Diskutierenden ein berühmter Schauspieler, der gerade Lessings "Nathan" gibt. Seine Reden ernten bewundernde Blicke. Kein Zweifel: Er ist er. Philosophen, ausgenommen die ganz dummen, können das nicht von sich behaupten. Auf die Frage, wer ich sei, habe ich noch nie - außer in meinen ganz dummen Momenten - geantwortet: "Ich bin ich." Jetzt, vor mich hin dösend, wäre ein solcher Moment.
Vor mich hin dösend weiß ich, dass ich ich bin, aber ich weiß nicht, was das bedeutet. Und das ist gut so, denn sonst bliebe mir nichts zu hoffen. Kein neuer Morgen stünde mir ins Haus.

Service

Wenn Sie diese Sendereihe kostenfrei als Podcast abonnieren möchten, kopieren Sie diesen Link (XML) in Ihren Podcatcher. Für iTunes verwenden Sie bitte diesen Link (iTunes).

Sendereihe

• Gedanken für den Tag