Gedanken für den Tag

Von Julian Roman Pölsler. "Ein neues Leben in der fremden Welt" - Assoziationen zu Marlen Haushofers Roman "Die Wand". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Anlässlich der Deutschland-Premiere seiner Verfilmung des berühmten Romans "Die Wand" der oberösterreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer, greift der Drehbuchautor und Regisseur Julian Roman Pölsler in den "Gedanken für den Tag" Aspekte der vielschichtigen Erzählung heraus und stellt seine persönlichen Assoziationen und Gedanken dazu vor.

In Haushofers Roman "Die Wand" fährt eine Frau mit Freunden übers Wochenende in deren Jagdhaus im Wald. Abends gehen die Gastgeber ins Tal und tauchen am nächsten Morgen nicht mehr auf. Als die Frau nach ihnen sucht, entdeckt sie eine unsichtbare Wand, hinter der es offenbar kein Leben mehr gibt. Mit einem Hund, einer Kuh und einer Katze stellt sie sich den Herausforderungen ihres neuen Lebens.

"Der Film erzählt vom individuellen Wandlungsprozess einer Frau, die durch ein unerklärbares Phänomen gezwungen wird, mit ihrem gewohnten Leben zu brechen und in einer fremden Welt ein völlig neues Leben zu führen", erklärt Regisseur Julian Roman Pölsler.

Marlen Haushofer beginnt den letzten Absatz ihres Romans "Die Wand" damit, dass die Protagonistin ihren Bericht, den sie den ganzen Winter über geschrieben hat, an den dämmrigen Nachmittagen, vor denen sie so viel Angst hatte, mit den Worten:
 
"Jetzt bin ich ganz ruhig. Ich sehe ein kleines Stück weiter. Ich sehe, dass dies noch nicht das Ende ist. Alles geht weiter. Stier, Perle, Tiger und Luchs wird es nie wieder geben, aber etwas Neues kommt heran, und ich kann mich ihm nicht entziehen. Die Erinnerung, die Trauer und die Furcht werden bleiben und die schwere Arbeit, solange ich lebe. Heute, am fünfundzwanzigsten Februar, beende ich meinen Bericht. Es ist kein Blatt Papier übriggeblieben. Es ist jetzt gegen fünf Uhr abends und schon so hell, dass ich ohne Lampe schreiben kann. Die Krähen haben sich erhoben und kreisen schreiend über dem Wald. Wenn sie nicht mehr zu sehen sind, werde ich auf die Lichtung gehen und die weiße Krähe füttern. Sie wartet schon auf mich."
 
Ist sie ruhig, weil sie weiter sieht? Kann man ruhiger sein, wenn man weiter sieht? Wie weit können wir sehen, wir, die wir mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegend auf den großen Wasserfall zutreiben? Die Gewissheit, dass dies noch nicht das Ende ist, lässt ihre Heldin ruhiger werden. Aber kann ich wirklich ruhiger werden, auch wenn ich erkenne, dass dies noch nicht das Ende ist? Eines Tages wird es das Ende sein. Wie kann ich ruhig sein, wo ich doch nicht einmal weiß, ob es eines fernen Tages sein wird, oder im nächsten Augenblick? Wie kann ich ruhig sein, wenn ich nicht weiß, was wartet? Letzten Endes: Was wartet auf mich - am Ende? Kein Ende. Sondern eine Verwandlung. Christus sagt: Wer an mich glaubt, der wird ewig leben. Ja. Das glaube ich.

Service

Buch, Marlen Haushofer, "Die Wand", List Verlag

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120128 Gedanken für den Tag / Julian Pölsler
Länge: 03:49 min

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