Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Frühling - immer wieder gelingt es". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Die Natur und der Mensch, das Leben und die Liebe - im Frühling scheint alles noch einmal ganz neu zu beginnen; sogar in der Politik steht "Frühling" für einen Neubeginn. Und Gedichte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart sind voll von Frühlingsdüften, erstem Vogelzwitschern und neuen Hoffnungen oder, wie ein Gedicht von Eugen Gomringer beginnt: "Frühling - immer wieder gelingt es".

"Im Märzen der Bauer die Rößlein einspannt, er setzt seine Felder und Wiesen instand..." - in der Volksschule mussten wir dieses mährische Volkslied aus dem 19. Jahrhundert noch singen, obwohl in unserem Bergbauerndorf im März immer noch Schnee lag und der Bauer rein gar nichts machen konnte. Die Lyrikerin Ulla Hahn hat dieses Lied offensichtlich auch nicht vergessen können - aus seinen Versatzstücken hat sie das Gedicht "Im Märzen" gebildet:

Im Märzen da reiß ich
den Samt vom Himmel der Sonne
mach ich die Laden dicht ich
hack der Krähe ein Auge

aus Amsel Drossel Fink und Star
dreh ich den Hals um dem Krokus
köpf ich die Knospen ich schmeiß
dir mit Veilchen die Fenster

ein jeder sehe wie
ich's treibe wenn
du nicht sofort
die Rößlein einspannst.

Ziemlich aggressiv scheint dieses Gedicht zu beginnen - aggressiv gegen die idyllischen Naturbilder und gegen die harmlose Munterkeit des bekannten Frühlingsliedes. Aber spätestens bei der Drohung "ich schmeiß / dir mit Veilchen die Fenster / ein" wird klar, dass in dem aggressiven Gestus viel Absurdität und Ironie steckt. Und am Ende stellt sich heraus, dass die Drohungen an eine Bedingung geknüpft sind: "wenn / du nicht sofort / die Rößlein einspannst". Im Lied spannt der Bauer die Rößlein zur Feldarbeit ein, in Ulla Hahns Gedicht hingegen heißt "wenn / du nicht sofort / die Rößlein einspannst" ganz einfach: wenn du nicht sofort zu mir kommst. Die aggressiv-ironischen Drohungen sind ein einziger Ausdruck des ungestümen Wartens, dass der oder die Geliebte endlich kommen soll.

Seit Jahrhunderten sind Frühlingsgedichte aufs Engste verknüpft mit der Erfahrung der Liebe. In Eichendorffs berühmter "Frühlingsnacht" etwa werden Lüfte und Düfte und all die traditionellen Charakteristika des Frühlings nur aufgeboten, um am Ende den beglückenden Satz auszustoßen: "Sie ist deine, sie ist dein!" In der Liebe wie im Frühling bricht die Erfahrung auf, dass ein Neuanfang möglich ist, dass das Eis schmilzt, dass ein neues Licht leuchtet und bunte Farben blühen, wo vorher nur Schwarz-Weiß war. Wenn das nicht nur in der Natur geschieht, sondern auch im eigenen Inneren, dann leuchtet das Glück.

Service

Buch, Ulla Hahn, "Herz über Kopf. Gedichte", Deutsche Verlagsanstalt
Buch, Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, "Frühlingsgedichte", Reclam

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120320 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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